Heiße und kalte Schauer liefen mir abwechslungsweise den Rücken hinunter. Ich versuchte, tief durchzuatmen und meine wild durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen, während mein Mund sich wieder einmal selbstständig machte. „Entführt? Unmöglich!"
Tanja's Augen ließen keinen Augenblick von mir ab, und die Falte auf ihrer Stirn wurde wenn möglich noch tiefer. Marsh presste sanft meinen Ellbogen. Ich blickte kurz zu ihm auf, aber sein dunkles Gesicht blieb emotionslos. Dafür nahm seine Bekannte ihr Verhör wieder auf. Auf einmal wirkte sie deutlich weniger sympathisch. „Weshalb unmöglich? Haben sie irgendwelche Gründe für diese Aussage?"
Natürlich hatte ich Gründe. Wollte sie mir etwa vorwerfen, ich hätte die Prinzessin entführt? Als ob ich mich freiwillig auch nur eine Minute länger als nötig mit der Erdaristokratie einlassen würde. Ich holte tief Luft um meinem Ärger Gehör zu verschaffen, als Marsh sich räusperte. „Lonnie, niemand wirft dir eine Entführung vor. Aber vielleicht solltest du uns tatsächlich etwas mehr erzählen. Irgendetwas an dieser Geschichte scheint ziemlich faul zu sein."
Nun, damit hatte er definitiv recht. Ich atmete aus und fühlte mich dabei wie ein Ballon, der die Luft verliert und damit das Einzige, was ihn in Form hielt. Die Müdigkeit der vergangenen Tage drohte, mich zu verschlingen, und ich wollte einfach nur zurück auf mein Schiff, Pilot auf den Arm nehmen und in meiner Koje einschlafen. Oder vielleicht vorher ein gutes Buch lesen oder mit Jules plaudern. Jules! Hatte der vielleicht etwas mit der Sache zu tun?
Wie einen Film ließ ich die Ereignisse nach dem Meteoriteneinschlag vor meinem inneren Auge ablaufen — im Zeitraffertempo. Konnte es sein, dass Jules die Prinzessin entführt hatte und... nein, unmöglich. Er war sogar eher bereit gewesen als ich, die beiden in der Rettungskapsel fliehen zu lassen.
Es ergab keinen Sinn. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung kehrte ich in die Gegenwart zurück. Marsh und Tanja starrten mich an, als wäre ich das Orakel von Delphi und würde nun gleich eine kluge Antwort auf die allumfassenden Fragen des Universums ausspucken. Ich musste sie leider enttäuschen.
„Ich kann mir das schlicht nicht vorstellen. Die Prinzessin — ich meine die Dame von Schroeder — hat nicht im Mindesten den Eindruck erweckt, dass sie entführt wurde oder sonst irgendwie unter Druck stand. Ich hatte auf Sol-1 eine Annonce platziert, dass ich Fracht oder Passagiere nach Europa suche. Sie ist daraufhin im Dock aufgetaucht, zusammen mit ihrem Leibwächter. Bestand darauf, so rasch als möglich abzufliegen, aber das ist weder ungewöhnlich noch verdächtig."
Tanjas Stirnfalte schien sich etwas auszuebnen. Sie lehnte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. Silberblaue Strähnen fielen ihr ins Gesicht. „Hat sie einen Grund für die Reise genannt?"
„Nein, und ich habe nicht danach gefragt. Sie hat sich bei mir gleich als die Tochter des Senators von Schroeder vorgestellt. Da war mir klar, mit welcher Sorte ich es zu tun hatte. Aber ich brauchte das Geld. Ich wäre länger auf Sol geblieben, wenn die Chance bestanden hätte, einen Ersatz für meine defekte Reserveanlage zur Luftaufbereitung zu bekommen. Leider konnte ich mir das mit den neuen Reglementen und der ständigen Inflation nicht leisen. Ich wollte deshalb so rasch als möglich zurück hierher, und sie bot einen guten Preis."
Das Gesicht der Beamtin wirkte nun schon fast wieder entspannt. Vielleicht verstand sie genug von den Problemen der kleinen Frachtkapitäne, um mir zu glauben. Marsh ließ meinen Arm los und trommelte mit den Fingern auf die Sessellehne. „Das ergibt wenig Sinn im Zusammenhang mit einer Entführung. Wie eindeutig sind denn diese Hinweise? Vielleicht ist das Mädel ja einfach abgehauen."
Tanja ließ ihre perlweißen Zähne in einem kurzen Lächeln aufblitzen. Die Falte gehörte zu meiner Erleichterung der Vergangenheit an. „Keine Ahnung. Die Polizeibehörden der Erde sind knausrig mit Informationen, die sie an uns Abtrünnige weitergeben."
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Und mein Schiff heißt Nemesis | Wattys 2021 Shortlist
Bilim KurguEigentlich sollte ich nur die Tochter des Senators nach Europa-5 bringen. Der Lohn würde reichen, endlich mein Schiff zu überholen. Aber das Schicksal meinte es anders. Es bescherte mir nicht nur einen Asteroideneinschlag, sondern auch einen blinder...