6| Man sieht sich.

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"Also erzähl mir was von dir? Was soll die Kamera?" Bat ich ihn, um wenigstens irgendwie das Gefühl zu erlangen, dass ich noch Kontrolle über dieses Gespräch hatte. 
Wir schlenderten gerade über die Kreuzbergstraße und meine Kopfschmerzen waren verschwunden. 
"Oh. Ich mache gerne Fotos." Erklärte er mit einem Schulterzucken. Ich schmunzelte. "Aber warum eine Kamera? Mit dem Handy ist das doch viel praktischer." Warf ich ein und runzelte die Stirn. 
"Ein Leben hat so viele Tage..." Begann er zu erzählen und ich lauschte seiner Stimme gespannt. "...aber am Ende erinnerst du dich nur an ein paar davon. Die schönen, die schrecklichen, die außergewöhnlichen." Ich nickte. "So ist es mit dem fotografieren. Mit einem Handy kann ich jedes Foto immer wieder machen, es bearbeiten und löschen. Doch mit der Kamera. Ich mache mir Gedanken, ob ich wirklich den Auslöser drücken soll, denn ich verschwende damit ein Bild. Ein Moment den ich irgendwann vielleicht nicht festhalten kann. Und selbst von den Bildern die ich mache werden nur die Hälfte akzeptabel." Erklärt er und blickt mich an, doch als er meinen Blick sieht redete er weiter, weil er glaubt ich habe es nicht verstanden.
"Du gibst den Momenten mehr Gewicht." Sagte ich, mehr zu mir selbst, als zu ihm. Aber er lächelt schwach und nickt. 
"Wenn du dir Gedanken machst ob du den Auslöser drücken sollst, gehst du da nicht auch auf Nummer sicher?" Fragte ich und bezog mich auf das Gespräch auf der Bank. Dort hatte er festgestellt das es die Sicherheit war, die mich zu dem machte was ich war. Irgendwie. 
"Ich höre auf mein Herz. Ich lebe nicht nach Regeln die andere aufgestellt haben." Erklärte er und mein Blick fiel auf seine nackten Füße. Das glaubte ich ihm sofort. 
"Wenn ich auf mein Herz höre, dann bereue ich es nicht." Fügte er hinzu und blickte abwesend in den Himmel. 
Mein Blick glitt über sein Profil. Seine Lippen waren leicht geöffnet, voll und sinnlich. Seine Wimpern waren lang und schön. Seine Nase grazil und gerade, bis auf diesen kleinen Höcker. Über seinem rechten Auge hatte er eine kleine Narbe, die kaum merklich etwas heller war, als seine gebräunte Haut. 
"Du bereust es nicht? Niemals?" Fragte ich ihn und holte ihn aus seinen Gedanken. Langsam wandte er mir den Blick zu und musterte mein Gesicht. "Niemals!" Sagte er fest, als gäbe es keinen Zweifel an seinen Worten. 
Schnell wandte ich den Blick ab. Wenn er mich so ansah, wie er es gerade tat, fühlte ich mich nackt. Es war absurd. Sah man ihn und mich auf der Straße zusammen, mussten die Leute sonstwas denken. Er sah etwas verwildert aus, trug nur die kurze Jeans und seine Kamera am Körper, während ich die neusten Looks des Sommers trug. Ein Outfit, dass in der neuen Chic!  als der Look des Sommers deklariert wurde. 
Ich sah, wie uns die anderen anblickten, glaubte aber, dass sie eigentlich nur Mücke ansahen. Er hatte diese seltsame Aura. Sie war abschreckend und so faszinierend zugleich. Aber ich bemerkte auch einige Blicke der Frauen um ihn herum. Er weckte ihre Neugier, ziemlich offensichtlich. Und es war eine bestimmte Gruppe von Frauen, die ihn so taxierten. 
"Willst du später in die Politik gehen?" Fragte er als wie ein paar schweigende Schritte gemacht hatten. "Meine Mutter will es." Sagte ich und fragte mich, warum ich das gesagt hatte. Natürlich wollte auch ich es. "Und willst du es auch?" Fragte er und wich einem Radfahrer aus. "Ja, ich denke schon." Wieder fragte ich mich, warum ich so geantwortet hatte. Hielt er mich für einen Snob, wenn ich es wollte? 
"Das klingt ja sehr überzeugend." Sagte er mürrisch und sein Blick verdüsterte sich etwas. Ich atmete tief ein. "Mein Leben ist durchgeplant. Ich mache mein Praktikum in der Partei in der meine Mutter den Parteivorsitz inne hat in Baden-Würtemberg. Danach soll ich VWL oder Politik studieren. Meine Mutter würde gerne, dass ich Politik im Bachelor und Wirtschaftspolitik im Master mache. Ich soll ihre Nachfolgerin werden in ein paar Jahren. Dann einen erfolgreichen Mann heiraten, zwei Kinder bekommen und das perfekte Leben führen." Erklärte ich und war überrascht über die Verbitterung in meinen Worten. Ich hatte nie eine solche Verbitterung gespürt. 
"Und willst du das? Das Studium? Den Parteivorsitz? Einen Kerl wie den letztens? Zwei Kinder mit ihm?" Fragte er mit ausdrucksloser Miene. Wieder eine dieser Fragen, die schwer zu beantworten war. "Ich schätze schon." Flüsterte ich und verstand nicht recht, warum ich dabei ein solch schlechtes Gefühl hatte. Mücke verstand es vor mir. Er blieb stehen, wandte sich mir zu und wirkte plötzlich gehetzt. 
"Ich hoffe du wirst damit glücklich." Sagte er gepresst. "Aber das ist nicht so mein Ding." Fügte er hinzu und zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm egal. "Ich muss los. Man sieht sich bestimmt." Sagte er und lächelte gezwungen, bevor er kurz meine Schulter tätschelte, dann über die Straße rannte und in der Menge verschwand. 
Seltsam verzögert hob ich meine Hand zum Gruß. "Man sieht sich." Flüsterte ich, doch er war schon weg. 
Verwirrt über seine Reaktion blieb ich einfach stehen. in der Hand noch immer diesem letzten Schluck Cola. Sachte strich ich über das Etikett und überlegte, was ich falsches gesagt hatte. Ihm muss doch von anfang an klar gewesen sein, dass wir beide so unterschiedlich waren. Und doch hatte ich in den letzten Stunden angefangen mir vorzustellen, dass er tatsächlich mein Freund sein könnte.
Dieser wilde, ungezwungene Mann, der jedem Moment die Chance gab etwas großes zu werden. Der mir mit einem einzigen Blick das Gefühl gab durch mich hindurch zu sehen, mich emotional auszuziehen und mich nicht verurteilte und das obwohl ich es getan hatte. Von dem ersten Moment an. Der mich überrascht hatte, weil er nicht nur dieser ungebildete, grobschlächtige Prolet war für den ich ihn gehalten hatte, sondern intelligent und witzig und aufmerksam war. 
Ein Mann von dem ich glaubte, dass er meine Zeit nicht Wert war. Stellte sich heraus, dass ich seine Freundschaft nicht verdiente. Den ich nicht verdiente. 

Die Prinzessin und der PunkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt