Mit aller Kraft

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Noch nie in meinem Leben schoss die Röte so extrem in mein Gesicht, wie sie es genau in diesem Moment tat.
Noch nie in meinem Leben war mir etwas so peinlich, wie genau in diesem Moment.
Noch nie in meinem Leben stand ich nackt vor einem jungen Mann.
Meine Kehle war wie zugeschnürt, sodass ich keinen Ton hervor brachte. Mein Herz schlug wie verrückt und ich konnte mich nicht aus der Schockstarre lösen.
Angestrengt blickte Zero an mir herunter. Aus Reflex schlang ich meine Arme um den Körper und in dem Moment zuckte der Schmerz der Hand durch den Arm und ich verzerrte das Gesicht. Ohne seine Miene zu verändern hob er das Handtuch auf und legte es sanft über mich. Ein angenehmes Gefühl durchfuhr meinen Körper. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, trat Zero ein und lief zum Fenster.
Noch immer mit der Situation überfordert und peinlich berührt schloss ich die Tür und versuchte mein Handtuch durch einen gekonnten Knoten an meinem Körper festzuschnallen. Keiner von uns beiden sagte etwas. Zero beobachtete schweigend den Regen, der die Stille mit Klängen begleitete.
Was wollte er hier?
Schmerzend rieb ich meine Hand und trat neben ihn ans Fenster.
„Wenn du von mir eine Entschuldigung hören willst, dann bist du hier falsch", sprach ich ruhig und monoton.
Wie von Zauberhand war die Peinlichkeit verschwunden.
Zero rührte sich nicht, sah immer noch starr nach draußen in die verregnete Dunkelheit.
„Ich bin nicht hier, damit du dich entschuldigen sollst. Ich bin hier, um dir meinen Respekt auszusprechen."
Verwundert blickte ich ihn an.
Respekt?
Wofür?
Dafür, dass ich ein Reinblüter war?
„Zieh dir was über, dann lass uns sprechen", sagte Zero und beobachtete weiterhin starr den Regen.
Verwirrt und ein bisschen überfordert lief ich ins kleine Badezimmer und zog mir eine kurze Hose und einen Wollpullover über. Dann kam ich wieder ins Zimmer und Zero drehte sich zu mir. Er begutachtete mich ausdruckslos und nahm auf einem Sessel Platz. Ich gesellte mich zu ihm und setzte mich auf das kleine Sofa.
„Was meinst du mit Respekt?" fragte ich und versuchte diese unheimliche Stimmung zu überwinden.
„Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber ich bin wie du. Wir sind von gleicher Natur und auch wieder nicht."
Ich zog meine Knie an den Körper und hörte Zero aufmerksam zu.
„Ich bin ebenfalls eine Bestie", sprach er und zeigte mir seine Reißzähne.
Entgeistert versuchte ich es mir nicht ansehen zu lassen.
„Wir sind uns so ähnlich. Ich hasse mich und alle anderen Vampire genauso sehr, wie du dich selbst für das was du bist. Der einzige Unterschied, du bist von reiner Abstammung und ich nicht. Irgendwann ist meine Zeit auf dieser Erde zu Ende. Doch ich werde das Leben nicht friedlich verlassen können, das ist mir nicht vergönnt."
Ich schluckte, denn ich begriff, was das bedeutete. Zero war von einem Reinblüter zum Vampir verwandelt worden und würde irgendwann in den Level E Status degenerieren. Dann würde er getötet werden.
„Ich bin hier, um dir meinen aufrichtigen Respekt auszusprechen. Als ich dich das erste Mal traf, spürte ich eine ungewöhnliche Aura in deiner Nähe, konnte diese jedoch nie zuordnen. Allein schon, dass du dich unter die Day Class in diese Academy geschmuggelt hast, sagt mir, wie viel Mitgefühl und Barmherzigkeit du mit dir trägst. Du willst den Menschen helfen. Als einer von denen, bist du die erste und vermutlich Einzige, die jemals gegen die Regeln des Systems des Senats handeln wird. Jeder von den Reinblütern spielt seine Rolle im System, ohne Rücksicht auf menschliche Verluste. Aber du, du hast dich diesem System einfach widersetzt, indem du Menschen hilfst, indem du dich für sie stark machst. Ich habe gesehen, mit welcher Energie du Malin verteidigt hast, ohne darüber nachzudenken, was mit deinem Status passieren würde, wenn der Senat davon Wind bekommen sollte. Du hättest beinahe Mord an deiner eigenen Rasse begangen, als du die Bloddy Rose abgedrückt hast. Wer weiß, was sich der Senat für eine Strafe für dich ausgedacht hätte, um dich in deine Schranken zu weisen? Abgesehen davon, hast du einfach meine Waffe benutzt und den Schmerz dafür eingebüßt. Einfach so, weil du deine Freundin verteidigen wolltest. Wer diese Gutmütigkeit und Stärke nicht in dir erkennt, der wird dein Wahres Ich niemals zu schätzen wissen."
„Zero", begann ich „ ich weiß nicht was ich sagen soll.."
Für einen Moment hielten unsere Blicke gegenseitig stand und ich hatte das Gefühl in sein Inneres zu blicken. Immer hatte ich Zero als einen zurückgezogenen jungen Mann gehalten, der nicht wusste, was das Richtige für ihn war, doch heute, genau in diesem Moment konnte ich sehen, wie viel Gutes, Menschliches in ihm steckte. Er hatte es nicht verdient zu einem Level E zu degenerieren und sein Leben gewaltsam zu verlassen. Ich konnte sehen, wie viel Schmerz er mit sich trug.
Doch war ich wirklich so menschlich, wie Zero es mir sagte?
Wie viele Leben hatte ich schon geraubt, menschliche Leben?
Wie oft hatte ich nur nach meinem Willen, in meiner Absicht gehandelt?
„Ich bin nicht die, für die du mich hältst. Ich habe viele Menschen getötet, ich habe nach meinem Willen gelebt und auch nur für mich. Alle anderen waren mir egal. Alles was du sagst, das stimmt nicht, Zero."
Der Silberhaarige stand auf und kam zu mir herüber.
„Vielleicht hast du früher so gelebt, aber ich glaube nach Heute wirst du dir eingestehen müssen, dass du dich verändert hast."
Ich schwieg und versuchte meine Gedanken zu ordnen.
„Zeig mir deine Hand", sagte Zero und ich reichte ihm meine schmerzende Hand.
Vorsichtig drehte er sie leicht und strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken.
„Es gibt eine Möglichkeit die Schmerzen verschwinden zu lassen", begann er.
„Wie?" fragte ich und löste mich aus der Trance, in welche sein Streicheln mich gebracht hatte.
„Du musst mein Blut trinken", sagte er emotionslos und starrte auf meine Hand.
Sie war gerötet und wirkte knochig, als gäbe es kaum noch Fleisch an ihr. Das brannte ungemein und fühlte sich von Sekunde zu Sekunde nur schlimmer an.
„Ich kann nicht. Meine Prinzipien sprechen dagegen."
„Deine Hand wird sich nicht erholen, ehe du dich mit Blut gestärkt hast. Ich verstehe, dass du das nicht willst. Ich habe es auch eine Zeit lang nicht gewollt. Doch ich biete dir mein Blut an, du musst niemanden dafür verletzen. Sieh es als einmalige Sache an."
Ich saß wie versteinert da und blickte Zero intensiv an.
Aber was, wenn ich nicht aufhören konnte? Als Rido mir sein Blut gab, konnte ich auch nicht aufhören, er musste mich gewaltsam bremsen.
Ablehnend zog ich meine Hand zurück und sofort durchfuhr mich ein stechender Schmerz.
„Ich kann nicht Zero. Das ist das Schlimmste an der ganzen Sache. Es steht immer an erster Stelle, dieses Verlangen zu unterdrücken."
Zero nickte.
„Das verstehe ich nur zu gut. Falls du es dir anders überlegst, dann weißt du ja, zu wem du kommen kannst."
Mit diesen Worten stand er auf und verließ den Raum, ohne sich umzudrehen. Er ließ mich mit den vielen wirren Gedanken zurück.

Es vergingen zwei volle Tage, die ich im Zimmer ohne die Gesellschaft von irgendwem verbrachte. Die Schmerzen waren noch keinen Moment schwächer geworden, eher das Gegenteil. Mit schmerzverzerrter Miene saß ich auf dem Fenstersims und blickte nach draußen. Das Unwetter war ebenfalls nicht vorüber gegangen. Es regnete unermüdlich und ab und an kam ein gewaltiges Gewitter auf. So sehr ich mir wünschte Malin zu sehen, so sehr wusste ich, dass ich nicht in diesem geschwächten Zustand zu ihr sollte. Es war zu gefährlich, ich könnte ihr etwas antun. In meinem Kopf war ein einziges Chaos. Gedanken unterschiedlichster Art keimten durcheinander auf. Langsam fing ich an nicht mehr genau zu wissen, was Traum und was Gegenwart war. Ich war ratlos.
Was konnte ich tun?
War Blut das einzige Mittel, um meinen geschwächten Körper zu stärken und mit neuer Lebensenergie zu füllen?
Mit Kopf- und Gliederschmerzen rieb ich über mein Handgelenk, als mir das kleine Tattoo ins Auge fiel.
Vielleicht konnte Aiden mir helfen. Ein Lichtblick in meinem schwarzen Tunnel erschien vor mir.
Sofort kontaktierte ich Aidan und hoffte, er würde sofort erscheinen. Doch nichts geschah. Es war wohl hoffnungslos.
Vielleicht konnte man bei diesem extremen Wetter nicht Teleportieren?
Plötzlich fiel ein Buch aus dem Bücherregal und ich zuckte kurz zusammen. Ohne mir dabei was zu denken stand ich auf, nahm es und blätterte kurz darin, bevor ich es wieder einsortieren wollte. Doch beim Blättern durch die Seiten fiel mir etwas sehr prägnantes auf. Der Anfangsbuchstaben eines Kapitel, welches offen vor mir lag, besaß ein gleich aussehendes A, wie mein Tattoo. Das konnte kein Zufall sein. Aidan wollte Kontakt mit mir aufnehmen, aber wie konnte ich ihm antworten. Ich blickte mich im Zimmer um und sah eine alte Feder neben einem Tintenfässchen stehen. Schnell setzte ich mich an den kleinen Schreibtisch und tunkte die Feder in die Tinte. Ich musste mit der rechten Hand schreiben, was mir überhaupt nicht gut gelang, denn ich war Linkshänder. Ich blätterte zu Aidans Kapitel und schrieb unbeholfen in die freien Stellen.
„Aidan, bist du da?"
Zunächst geschah nichts, doch dann tauchte unter meiner Frage eine Antwort auf.
„Suri, kannst du das sehen? Was ist los? Brauchst du meine Hilfe? Die Naturgewalt ist zu extrem, ich kann sie nicht überwinden, sie ist wie eine Barriere."
Schnell schrieb ich zurück.
„Ich brauche deine Hilfe. Ich habe vor mehr als zwei Tagen eine Bloody Rose benutzt und ich kann mich einfach nicht von den Schmerzen erholen."
Schmerzerfüllt sah ich auf meine fast vertrocknete Hand.
„Bist du des Wahnsinns? Kaum ein Vampir überlebt das Benutzen einer solchen Waffe. Was ist passiert? Normalerweise müsste dir dein Instinkt sagen, dass du Blut zu dir nehmen musst. Aber wenn das jetzt noch nicht verheilt ist, muss ich nachforschen, was zu tun ist."
„Ich habe kein Blut zu mir genommen. Ich muss es ohne schaffen."
„Suri, bist du verrückt. Blut ist deine Energiequelle. Ohne es wirst du sterben."
Ich lehnte mich zurück in den Stuhl und wusste nicht weiter.
„Ich weiß, dass du dich für abscheulich hältst, aber willst du das Risiko eingehen zu sterben, nur weil du der Versuchung nicht nachgeben wolltest? Dein Vampir Leben beinhaltet nun mal Blut, das kannst du nicht vermeiden, es ist nicht veränderbar... Suri, es tut mir sehr leid, aber ohne Blut wirst du bald sterben. Es ist jetzt unser Lebensmittelpunkt und kontrolliert uns."
Seid ich die Verletzung hatte fühlte ich das Blutverlangen umso intensiver.
Was sollte ich bloß machen?
Es widersprach meinen Werten.
Ich ging in mich und legte die Feder beiseite.
Wollte ich wirklich sterben nach allem, was ich durchgemacht hatte?
Ich konnte mich doch irgendwie immer durchs Leben kämpfen, war heute etwa wirklich der Moment, den ich solange gefürchtet hatte?
Schweren Herzens stand ich auf und schleppte mich zur Tür. Ein letzter Seufzer und ich ging.

In den Gängen begegneten mir ab und zu einige Day Class Schüler. Ich versuchte meine Hand in meinem Ärmel zu verstecken.
Was war mein Ziel?
Das wusste ich nicht genau. Ich bog um die Ecke in den großen Salon, wo sich vor ein paar Tagen alles abspielte. Die Situation rund ums Unwetter hatte sich ein wenig eingependelt. Day Class Schüler agierten normal mit der Night Class, obwohl sich kaum einer blicken ließ. Vermutlich schliefen sie oder hielten sich einfach vor der neugierigen Day Class fern. Erschöpft hielt ich mich an der Wand fest und suchte jemand ganz bestimmtes.
„Oh mein Gott Suri, alles in Ordnung bei dir?"rief plötzlich eine laute Stimme und ließ mich zusammenschrecken.
Ich blickte in zwei große rehbraune Augen, Yukis.
Ich wollte gerade antworten, da rief sie ihren Vater zu sich. Der Rektor eilte heran, ohne großes Aufsehen zu erregen.
„Um Himmelswillen, Suri. Was ist denn mit dir passiert?"
Doch kurz nach seiner Frage wanderte sein Blick zu meiner Hand. Er war jahrelang im Hunterverband tätig. Er wusste, was mit mir war.
„Hast du kein Blut zu dir genommen?"
Ich schüttelte den Kopf.
„Das will ich nicht", entgegnete ich schwach und kämpfte mit meinem Schwindel.
„Normalerweise würde ich deine Art zu denken hier sehr begrüßen, denn es ist verboten an der Academy Blut zu konsumieren. Hier gibt es spezielle Kapseln, die das Verlangen zügeln sollen, aber nach der Benutzung einer Anti Vampirwaffe hätte ich längst gedacht, dass dich einer aus der Night Class besucht hat, um dir sein Blut zu geben. Das ist dann nämlich ein Notfall und durchaus erlaubt."
„Wo ist Zero?" brachte ich nur schwach hervor.
Yuki und der Rektor sahen sich verwirrt an.
„Er ist in der Bibliothek", sagte Yuki verblüfft und zeigte in eine Richtung.
„Aber was hat er jetzt mit deiner Situation zu tun?"
„Yuki, komm. Hilf mir ein paar der Night Class zu wecken und zu beraten, was wir tun sollen. Ich glaube Suri ist nicht mehr recht bei Verstand. Das kann eine Nebenwirkung der Wunde sein."
Yuki half mir mich auf einen Sessel zu setzen und ging mit Kaien mit.
Sobald sie aus dem Sichtfeld waren, stand ich auf und machte mich auf den Weg in die Bibliothek. Er war der einzige, der mir jetzt helfen konnte, denn ich wollte meine Schwäche unbedingt vor Kaname Kuran verbergen. Er sollte mich nicht so sehen.
Niemand war hier. Alles war leer. Ich schleppte mich durch die Gänge und fand Zero auf einem Fensterbrett sitzend, während er nach draußen blickte.
„Z..ero", keuchte ich vor Anstrengung.
Sofort sprang er auf.
„Was ist..." mehr brachte er nicht hervor, denn ich hielt ihm meine Hand hin.
Er kam auf mich zu und sah mich mit besorgtem Blick an.
„Hilf mir", bat ich.
„Aber nicht mit Blut", ergänzte ich und sank auf die Knie.
„Du bist ein unglaublicher Sturkopf. Weißt du das eigentlich?"
Zero kniete sich zu mir und versuchte mich wieder nach oben zu ziehen. Mit seiner Hilfe kamen wir bis zum Fenster und er lehnte mich gegen das Fensterbrett, damit ich leicht gestützt wurde.
„Blut ist deine einzige Überlebenschance."
Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich habe doch mein ganzes Leben versucht, gegen diese Versuchung anzukommen. Als ich damals von Rido Blut in mir aufnahm, konnte ich die Gier nicht mehr stoppen, was, wenn ich Zero verletzte oder gar schlimmeres antat, nur weil ich keine Beherrschung kannte?
Alles drehte sich in mir, ich hörte mein Herz pochen, meine Hand schmerzte und meine Venen schrien nach Blut.
Ich wusste, dass es falsch war.
Ich wusste, dass ich tausend Versprechen mir gegenüber brach.
Ich wusste, dass sich einiges dadurch verändern würde.
Ich ließ einfach los. Meine Augen veränderten sich und ich präsentierte Zero meine Reißzähne. Er knüpfte sein Hemd auf und lockerte den Kragen.
„Es ist die einzige Möglichkeit!"

Vampire Knight - SuriWo Geschichten leben. Entdecke jetzt