Abendessen

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Kapitel 20

Abends, ein paar Tage später saß Familie Thompson gemütlich beim Abendessen, welches in letzter Zeit eigentlich immer ziemlich ruhig und wenig harmonisch verlief. Keiner hatte große Lust sich zu unterhalten und Kevin blockte jegliche Art der Konversation ab. Irgendwann hatte es sich dann eingespielt, Louise kochte und dann saßen sie schweigend zusammen am Tisch und aßen.

Louise hing ihren Gedanken nach, während sie immer wieder Nudeln auf ihre Gabel aufspießte und sie sich in den Mund schob. Das Essen war nebensächlich und sie nahm den Geschmack der Tomatensoße gar nicht wirklich wahr. Während sie geistig komplett abwesend war, da sie sich gedanklich mit Kevin beschäftigte. Sie machte sich Sorgen um ihren Sohn, er war schweigsam geworden und kapselte sich immer mehr ab. Er sprach kaum noch mit ihnen und das freundliche Lächeln war kaum noch zu sehen. Der aufgeweckte, neugierige Junge wurde immer verschlossener und unnahbarer. Und wenn er mit ihnen sprach, dann war es kalt und unpersönlich, so als seien sie Fremde und er wollte eigentlich gar nichts mit ihnen zu tun haben. Louise fühlte sich auch immer öfter von ihm herumkommandiert, da war dieses ziehende Gefühl in Kopf und Magen, dass sie manchmal verspürte und danach tat sie wie willenlos genau das was Kevin verlangte.
Vielleicht sollten sie mit ihm einmal zum Arzt gehen oder ihn selbst untersuchen? Vielleicht war das Unwohlsein, welches sie verspürte eine Art mütterliche Warnung, dass es ihrem Kind nicht gut ging? Sie hoffte sehr, dass es nichts Ernstes war, dann konnte es vielleicht schnell behoben werden. Sie wollte doch nur ihren kleinen süßen Jungen zurück, ihren Kevin.
Allerdings war die Wahrscheinlichkeit auf eine einfache Lösung nicht sehr hoch, sie hatte aber auch noch nicht mit Albert darüber gesprochen. Louise war sich aber ganz sicher, dass das Problem nicht mit einem herkömmlichen Medikament behoben werden konnte. Immerhin waren keine äußerlichen Krankheitssymptome zu erkennen. Es konnte also höchstens eine Krankheit auf psychischer oder neurologischer Ebene sein. Ob es etwas mit der Veränderung von Kevins gewohntem Umfeld zu tun hatte?
Inzwischen hatten sie beide den Job gewechselt, dachte Louise. Sie hatten das Institut für Neurowissenschaft verlassen, der Leiter Professor Davies hatte das Projekt mit den Kindern eingestellt und allen Mitarbeitern eine gute Abfindung gezahlt, damit die weitere Verschwiegenheit gewährleistet war. Konnte das ein möglicher Auslöser sein?

Eigentlich war auch ein Umzug vorgesehen gewesen, aber Albert und Louise hatten darüber bisher noch nicht mit Kevin gesprochen. Wäre es ein Fehler das jetzt noch zu tun?

Aber all das war auch nur eine Nebensächlichkeit in dem großen Topf an Problemen. Viel Besorgnis erregender fand Louise das selbstbezogene und herrische Verhalten ihres Sohnes. Sie sah zu ihrem Mann herüber und dieser schien das Zeichen zu verstehen, denn er nickte ihr knapp zu, bevor er zu sprechen begann.

„Kevin, wir müssen reden. Du verhältst dich allmählich immer seltsamer und willst gar nicht mehr reden. Wir machen uns Sorgen, ist alles In Ordnung?" fragte Albert.

„Hast du Probleme in der Schule oder mit einem Freund?", setzte Louise hinterher, „Du kannst es uns sagen, Schatz, wir sind für dich da."

„Es ist alles in Ordnung" knurrte Kevin und fixierte seine Eltern mit einem fast mörderischen Blick.

„Kevin, wir müssen umziehen", brachte Albert das unliebsame Thema kurz und knapp auf den Punkt. „Nein, mein Sohn, keine Widerrede. Wir werden umziehen, es ist bereits beschlossene Sache" ergänzte er, als Kevin den Mund öffnete um zu protestieren.

„Wir bleiben hier" verkündete Kevin nachdem Albert geendet hatte und obwohl es eher nach einer Feststellung klang, konnten Louise und Albert sich dem ‚Wunsch' ihres Sohnes nicht widersetzen.

Obwohl sie noch frei handeln konnten und sie auch weiterhin ganz normal Entscheidungen treffen konnten, fühlten sie beide die geistige Sperre in ihrem Kopf. Ihre Handlungen in Bezug auf den Umzug waren nicht mehr unter ihrer Kontrolle. Das hatten sie alle beide festgestellt und es bereitete ihnen Unwohlsein. Es war kein gutes Gefühl, zu wissen das man praktisch ferngesteuert wurde und nebenbei trotzdem alles mitbekam, was man tat. Sogar eigene Gedanken waren möglich, nur mangelte es an der Umsetzung.

Louise spürte die Angst, die von ihr Besitz ergriff und ihren Geist gegen die Bedrohung ankämpfen ließ. Es war grauenvoll, es zu fühlen. Zu spüren wie einem die Kontrolle entgleitet und man nur ein Spielball in der Hand eines Anderen ist. Louise wusste, Albert ging es nicht anders, das sagten ihr seine Augen. Dieser bestimmte Gesichtsausdruck, der von Angst, Trauer und geistiger Gebrochenheit erzählte. Dieser Blick war nicht neu, er war die Folge von Kevins Befehlen.
Seine Wünsche waren oftmals kindisch und ungefährlich, nichts was andere Kinder nicht auch verlangten, mit dem einzigen Unterschied das es für Kevin Thompson kein ‚Nein' mehr gab. Zumindest in den meisten Fällen. Er bekam was er wollte, immer wenn er danach verlangte.

Und so sagten sie der Umzugsfirma ab und auch dem Besitzer des Hauses, welches sie sich eigentlich ausgesucht hatten. Es war als hätten sie nie den Wunsch gehabt überhaupt weg zu wollen. Und Louise kam sich dabei sehr komisch vor, sie begann langsam zu verstehen, dass hier etwas doch nicht ganz mit rechten Dingen zugehen konnte. Unterbewusst hatte sie es wohl schon immer gewusst, es viel früher bemerkt, aber jetzt erst begann es ihr wirklich klar zu werden.

Es war eine Sache, wenn sie Kevin auf seinen Wunsch hin ein zweites Eis erlaubte oder ob er ihnen regelrecht den Befehl gab hier zu bleiben und den Umzug abzublasen. Wohlgemerkt, sie hörten darauf!
Das waren Dinge, die ein zehnjähriger Junge noch gar nicht entscheiden durfte und es auch nicht in dem Maß in dem es nötig war überblicken konnte. Es musste viel mehr durchdacht und überlegt werden als man das in Kevins Alter überhaupt konnte. Sie musste dringend mit ihrem Mann über ihre Gedanken und Gefühle bezüglich Kevin reden, es konnte unmöglich so weitergehen. Außerdem konnte es doch nicht nur ihr so gehen.


Nach seinem kleinen Ausbruch am Abendbrottisch war Kevin aufgestanden und hatte die Aufforderung seines Vaters sich wieder zu setzen mit einem „Lass mich gehen" entkräftet. Und besonders in diesem Moment war Louise noch einmal deutlich geworden, dass hier etwas nicht in Ordnung war. Albert und sie selbst sollten die Autoritätspersonen sein und Kevin sollte auf sie hören und nicht umgekehrt. Nur woran konnte dieses verschobene Machtverhältnis liegen? Es gab schließlich immer für alles einen Grund, es galt nur ihn zu finden.

„Albert, wir müssen uns dringend unterhalten. Über Kevin" begann Louise etwas zaghaft das Gespräch.

„Du hast ja Recht", seufzte Albert, „Ich glaube, ich bin diesem Gespräch ein bisschen aus dem Weg gegangen, aber es ist wohl inzwischen mehr als deutlich, das es nötig ist, dass wir uns einiger Dinge klar werden. Etwas läuft ganz und gar nicht richtig und Kevin ist der Dreh- und Angelpunkt. Er ist zehn Jahre alt und erteilt uns Anweisungen und wir leisten bedingungslos folge. Sollte es nicht viel mehr so sein das wir ihn erziehen, und nicht umgekehrt? Mittlerweile kommt es mir eher so vor, dass er uns wie Hunde an der Kette hält, als seien wir seine Haustiere. Liegt es vielleicht daran, dass wir ihm gegenüber immer noch Schuldgefühle haben und deswegen zu weich mit ihm sind?" Er sah seine Frau eindringlich an, viel zu lange hatten sie dieses Gespräch vor sich hergeschoben, dabei war es immer unausweichlicher und immer wichtiger geworden.

„Nein, nein, ich glaube das ist es nicht. Zumindest nicht nur. Es ist etwas anderes. Ich habe manchmal nicht einmal mehr das Gefühl wie ein freidenkender Mensch zu agieren, es ist mehr so als wäre ich ferngesteuert und würde nur durch meine Augen sehen können wie ein Film aus Ich-Perspektive abläuft." grübelte Louise und schob den leeren Teller ein Stück zur Seite, sodass sie mit den Händen über den Tisch zu Albert greifen konnte. Ihre Hand legte sich auf seinen Unterarm und die blonde Frau sah zu ihrem Ehemann auf.

Albert nickte bedächtig „Ja, ich denke, das ist eine passende Beschreibung, ich könnte es nicht besser in Worte packen. Mir geht es ganz ähnlich. Dieser Drang, so als hätte eine fremde Macht von mir Besitz ergriffen und würde mich zu Dingen zwingen, die ich nicht tun will. Aber trotzdem füge ich mich den Anweisungen, die ich bekomme, völlig ohne das man mir Gewalt antut oder mich durch eine Drohung dazu zwingt. Es scheint völlig freiwillig zu sein, aber das ist es nicht, denn etwas kontrolliert mich direkt in meinem Kopf. Dabei ist mein Geist wach und ich bekomme alles mit was passiert ohne es verhindern zu können, so sehr ich das auch will. Denkst du wirklich es hat etwas mit Kevin zu tun?" Skeptisch sah er zu Louise und hoffte sie könnte einfach den Kopf schütteln oder er könne einfach aus einem bösen Traum erwachen. Aber niemand tat ihm den Gefallen, dies hier war die Realität und Louise hielt lediglich seinem Blick stand ohne auch nur ein klein bisschen mit dem Kopf zu schütteln.

„Ich wüsste keine andere Erklärung", begann seine Frau ihre Vermutung näher zu erläutern, „Immerhin ist sein Verhalten sehr verdächtig und unser Benehmen ihm gegenüber nicht natürlich. Ich denke wir sollten die Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen, so unrealistisch es auch auf den ersten Blick sein mag."

„Du meinst wir sollen dem nachgehen und ein paar Untersuchungen machen?" suchte Albert Bestätigung seines Vorschlags.

Louise nickte. „Glaubst du, Kevin wird das freiwillig mitmachen?" fragte sie leise. Es tat ihr leid, dass sie ihrem Sohn das würden antun müssen. Und so gern sie ihm die Auffrischung der Erinnerungen an das Labor auch ersparen wollte, es gab keinen anderen Weg. Es war nur zu seinem und vor allem auch ihrem besten. Wer wusste schon was los war und was in Zukunft noch passierte? Vielleicht war die DNA basierte Anomalie in Kevins Kopf mutiert oder der von ihnen entwickelte Virus, der die Krankheit bekämpfte, wirkte nicht mehr. Es würde einen Auslöser geben und der war bestimmt nicht die aktuelle Grippewelle, welche einige von Kevins Schulkameraden befallen hatte.

„Davon, das er kooperativ sein wird, ist nicht auszugehen, was man ihm nicht einmal verübeln kann, denn es wird ihn ganz bestimmt an früher erinnern. Und er ist erst zehn Jahre alt, wir können nicht erwarten, dass er versteht, das alles nur zu seinem Besten geschieht."

„Dann überlass es mir, ich werde dafür sorgen das er nichts davon mitbekommt" sagte Louise, im Kopf war sie bereits dabei die nötige Dosis Betäubungsmittel mit den nötigen Parametern zu berechnen.

Albert legte Messer und Gabel nieder und nahm einen Schluck Wasser aus seinem Glas „Gut, dann werden wir es tun" bekräftigte er noch einmal, bevor er begann den Tisch ab zu räumen. Louise war in der Zwischenzeit im Arbeitszimmer verschwunden, sie musste die Berechnungen für das Betäubungsmittel genau anpassen, immerhin wollte sie auf keinen Fall, dass Kevin Schmerzen hatte oder etwas von den Untersuchungen mitbekam.

~~ Rise~~ [Kilgrave FF (Marvel's Jessica Jones)]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt