Schmerz

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Kapitel 3
Irgendwann war die Tortur zu Ende, der Schmerz verebbte, aber Kevin merkte es nicht einmal. Zu tief saß das Gefühl in ihm und er schrie weiter.

Louise brachte ihn mit Hilfe des Mannes vor der Tür zurück in seinen Raum. Sie sah noch ein wenig an seinem Bett und streichelte dem Jungen über den Rücken, redete beruhigend auf ihn ein und irgendwann wurde er tatsächlich ruhiger. Er nahm die Welt um sich herum nicht wahr, aber sein Hals begann zu schmerzen. Also hörte er auf zu schreien. Stattdessen kugelte er sich auf seinem Bett ein, zog die Knie dicht an die Brust und schlag die Arme um seine angewinkelten Beine. Den Kopf vergrub er auf der Brust. Erste Tränen tränkten sein Gesicht und die Hand seiner Mutter auf seinen Rücken war nur eine lästige Berührung. Aber er ließ sie zu, es war zumindest eine Zuwendung. Es zeigte ihm, dass er ihr etwas bedeutete. Er war nicht egal. Aber dadurch wurde auch die Behandlung nur umso schwerer für ihn zu verstehen. Wie konnte das sein, wenn er ihr nicht egal war, wie konnte sie ihm dann so etwas antun? Waren alle Mütter so?
Die nächsten Tage und Wochen zogen ins Land, für Kevin war es eine Abwechslung zwischen höllischen Schmerzen und gähnender Langeweile, die er sinnvoll damit verbrachte um nachzudenken. Über alles und jeden das in einer Art und Weise sein Interesse wecke. Und in seinem Gefängnis gab es nicht viel, so begann er sich in seinen Kopf zurückzuziehen, er durchlebte praktisch die Hölle, immer und immer wieder. Und er wusste schon bald nicht mehr, wann es real war und wann nur ein Traum oder eine Vorstellung.
Aber dann, an einem ganz gewöhnlichen Tag, hörte es plötzlich auf. Die Medikamente und die Spritzen wurden abgesetzt. Kevin wartete Stunden und die Stunden wurden zu Tagen. Keine neuen Spritzen. Lediglich das Essen wurde ihm gebracht, ansonsten hatte er völlig seine Ruhe.
Nach zwei Tagen wurde er nervös, er begann hin und her zu laufen. War etwas passiert? Welchen Grund gab es dafür, dass seine regelmäßigen Untersuchungen und Behandlungen abgesetzt wurden?
Da war es ihm schon fast recht als dann nach einer Woche ein kräftiger Mann seinen Raum betrat und ihn wieder abholte. Er wurde in das Labor gebracht, auf der Liege fixiert und wie er es geahnt hatte, stand auch schon ein paar Minuten später sein Vater mit der Spritze vor ihm. Kevin zuckte zusammen. Wie hatte er nur so dumm sein können und glauben können, es sei vorbei? Es waren zwei Tage gewesen. Zwei Tage Hoffnung und Ruhe. Und er hatte sich direkt eingebildet, er könnte frei sein von den Schmerzen und dem Leid? Wie dumm, so dumm.
Dann wurden alle weiteren Gedanken in seinem Kopf ausradiert als die Flüssigkeit aus der Sprite in seinen Blutkreislauf gelang und sein Körper praktisch Feuer fing. Sein Kopf brannte, jeder Gedanken fiel schwer, war eine Qual. Weiter atmen, befahl er sich selbst und schnappte immer wieder nach Luft. Wenn der Körper und das Gehirn nicht automatisch seinen Atemreflex gesteuert hätten, wäre er vermutlich gestorben, weil sein Bewusstsein sich nur noch darauf konzentrierte, dem Schmerz zu trotzen. Ihn nicht in sein Innerstes zu lassen, ihn fortzudrängen. Und wie so oft verlor Kevin den Kampf, bis er sich schließlich dem Schmerz hingab und einfach nur noch hoffte, dass es bald vorbei sein möge oder eine Ohnmacht ihm Erlösung brachte.
Zu seinem Erstaunen war es dann wieder ein paar Tage ruhig, aber dieses Mal ließ Kevin nicht zu, dass Hoffnung in ihm aufkeimte. Mit jedem Tag, den er wartete, wurde die Angst vor dem nächsten Morgen größer. Jeder Morgen konnte der sein, an dem er erneut geholt wurde. Denn egal wie lang die Pause wurde, es war nur eine Pause und es würde weitergehen. Früher oder später würde der Schmerz ihn wiederholen. Es war immer so, das hatte er bereits in den Monaten seines Aufenthalts gelernt.
Und trotzdem wurde es immer schlimmer. Die Spritzen wurden immer weniger und er bekam nur noch sehr selten welche. Dafür wurde er mindestens alle zwei Tage jetzt mit Elektroden vollgeklebt und seine Werte wurden gemessen, protokolliert und in ganz vielen Tabellen und Diagrammen auf einer Menge Blätter visualisiert.
Aber das war nicht alles. Es gab noch eine weitere, wesentlich beunruhigendere Veränderung. Seine Eltern, Albert und Louise Thompson kamen ihn besuchen. Ohne Grund.
Es begann an einem Abend nach einem der Gesundheitschecks. Die beiden waren einfach in seinem Zimmer aufgetaucht, hatten nahe der Tür Stellung bezogen und ihn angestarrt. Dann waren sie zu ihm herübergekommen, hatten ihn anfassen wollen und mit ihm geredet. Kevin hatte sie komplett ausgeblendet so gut es ging, zumindest die Worte, die sie zu ihm sagten. Ihre Gegenwart konnte er nicht ausblenden und er rückte automatisch von ihnen weg, zog die Beine an und kauert sich in der Ecke auf dem Boden zusammen.
Louise und Albert hatte diese ganz offensichtliche Ablehnung ihres Sohnes hart getroffen. Sie hatten verstanden, das er Angst vor den Spritzen und den Behandlungen hatte, aber dass er diese Angst auch auf sie beide übertrug, hatten sie nicht erwartet. Es riss ein regelrechtes Loch in ihre Herzen. Das hatten sie niemals gewollt.
In den nächsten Tagen kamen sie nicht wieder, andere Mitarbeiter brachten Kevin das Essen oder holten ihn zu Untersuchungen ab. Zu schmerzlich war es gewesen, zu sehen welche Angst er vor ihnen hatte.
Louise nahm sich vor, das sie dies wieder ändern mussten. Sie liebte ihren Sohn und im Nachhinein, wenn sie in ihrem Kopf wieder das Bild von Kevin im Kopf hatte, wie er zusammengekauert in der Ecke saß, kam ihr in den Sinn, dass es vielleicht ein Fehler gewesen war, dass sie selbst ihn behandelt hatten. Aber sie hatten es gut gemeint, gedacht, dass es ihre Gegenwart vielleicht erträglicher für ihn machte. Und immerhin waren sie die besten auf dem Gebiet, sie kannten ihren Sohn und dessen Krankheit von allen Ärzten und Wissenschaftlern hier am besten. Und sie waren seine Eltern, wer würde sich mehr Mühe geben?
Und so gaben sie ihren Sohn einfach das, was sie eigentlich wohl am wenigsten hatten: Zeit. Natürlich, er war auf dem Weg der Besserung, es gibt ihm zunehmend und erstaunlich schnell besser. Die Medikamente hatten endlich angeschlagen und der Virus wurde verdrängt, zumindest konnten sie immer weniger Spuren davon nachweisen. Er ging zurück und würde in ein paar Wochen verschwunden sein, wenn die Entwicklung weiterhin so gut verlief.
Aber je besser die Genesung voranschritt, umso größer war der Wunsch der beiden Wissenschaftler, ihren Sohn endlich wieder nach Hause zu holen und ihm das geregelte, glückliche Leben zu bieten, das sie immer für ihn gewollt hatten.
Also kamen sie wieder, sie kamen in seinen Raum und taten nichts, waren einfach da, bedrängten ihn nicht. Ließen zu, dass er sich daran gewöhnte, das sie einfach nur da waren und er aufhörte, zusammenzuzucken und sich zurückzuziehen, wann immer sie den Raum betraten. Er machte Fortschritte, sehr langsam, aber sie konnten spüren, dass das Band des Vertrauens erst wieder fast vollständig neu erschaffen werden musste. Aber das würden sie meistern. Sie hatten so viel durchgemacht, ihr Sohn hatte so viel durchgemacht. Da würden sie diese letzte Hürde auch noch schaffen.  

~~ Rise~~ [Kilgrave FF (Marvel's Jessica Jones)]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt