12. „Get up"

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Ella hatte sich mit Migräne krank gemeldet. Das kam selten vor, aber war nicht ganz unmöglich. Sie schämte sich zu lügen, aber sie war ja tatsächlich nicht in der Lage zu arbeiten und lag nicht faul in der Gegend rum oder gammelte mit Chips, Eiscreme und Netflix auf dem Sofa. Sie lag im Bett.
Leider würde diese Ausrede als einzige verhindern, dass man erwartete, dass sie gegebenenfalls von Zuhause arbeitete oder für Fragen zur Verfügung stehen würde.

Und sie sah sich außer Stande mit jemandem zu reden. Fragen zu beantworten. So zu tun als sei alles in Ordnung, denn das war es nicht. Sie hatte Schmerzen und ... Angst.

Zum ersten Mal fühlte sie sich in ihrer eigenen Wohnung nicht sicher. Mehr als einmal hatte sie zum Smartphone gegriffen, ihr Daumen schwebend über Jace' Nummer und sich dann doch dagegen entschieden ihn anzurufen. Sie war eine erwachsene Frau und er war ihr in keinster Weise verpflichtet.

Stattdessen verbrachte sie die Zeit also mit Netflix und Grübeln. Sie nippte an ihrem Tee.

Sie wusste, dass sie so gut wie letzte Nacht schon lange nicht geschlafen hatte und das, obwohl ihr einfach jede verdammte Bewegung höllisch weh getan hatte. Die Wärme einer anderen Person hatte ihr gefehlt, das Gefühl beschützt zu werden. Und obendrein roch Jace einfach so unglaublich gut.

Sie hätte Jonathan anrufen sollen. Oder ihren Vater.

Sie hätte keinen One Night Stand um Hilfe bitten sollen.

Ella schüttelte den Kopf, zum einen um die Tagträumerei zu unterbinden und zum anderen Jace einfach aus ihrem Kopf heraus zu schütteln. Natürlich hatte sie sich nach dem Aufstehen noch einmal genau die Kratzer auf seinem Rücken angeschaut und festgestellt, dass sie definitiv von den Nägeln einer Frau stammten.

Jace war unter ihre Dusche gesprungen und anschließend nur mit einem Handtuch bekleidet herausgekommen. Sie hatte es währenddessen geschafft sich zumindest aufzusetzen. Zum dem Zeitpunkt hatte sie entschieden, dass sie sich für die nächsten Tage auf keinen Fall noch weiter bewegen würde, als von einer liegenden, in eine sitzende Position und umgekehrt.

Die Schmerzen machten sie grummelig und sie hatte Jace ohne groß nachzudenken gefragt, ob die Perle wenigstens gut gewesen sei. Dabei hatte sie auf seinen Rücken gedeutet. Jace hatte sie offen angesehen und sie hatte den Kampf in seinem Gesicht - zwischen dreistem Leugnen und dem Drang großkotzig einen Spruch zu klopfen -  live mitverfolgen können.

„Ich bin kein guter Kerl, das weißt du, Ella. Ich muss einiges in meinem Leben umkrempeln", er hatte laut geseufzt. „Ehrlich, ich weiß nicht mal, ob die Frau gut oder schlecht war, weil ich mich vorher völlig abgeschossen habe." Sie hatte zischend Luft geholt und er hatte ergänzt: „Ich würde dir gern zeigen, dass ich auch anders kann. Weißt du, ich könnte dich glücklich machen."

Ella dachte seit Stunden über nicht viel anderes nach. Ihr Gedanken kreisten immer wieder um dieselben Fragen: Konnte er das? Sich wirklich und wahrhaftig grundlegend ändern? Wollte sie das? Wollte sie, dass er ablegte, was sie zu ihm hinzog? Würde er das wollen? Wäre das nicht von Beginn an zum Scheitern verurteilt? Sie überlegte, dass das einzige, was ihr wirklich helfen würde, eine Glaskugel wäre, die ihr ihr Leben in fünf Jahren zeigte.

Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass das alles sein soll, was du dir vom Leben erhoffst.

Immer wieder dieser Satz in ihrem Kopf. Sie würde noch tatsächlich eine Migräne bekommen.

***

Jace hatte sie widerwillig doch alleine gelassen, um mit Ellas Wagen zu Casper zu fahren. Sein Dad war mit seinem Wagen zurückgefahren und er tauschte die Autos, fuhr Casper in die KiTa und schaffte es tatsächlich noch rechtzeitig zum Training zu erscheinen. Weiteren Ärger mit dem Club konnte er sich auch kaum erlauben.

Während er also Bahn um Bahn im eiskalten Becken zurücklegte, immer beobachtet von Ben, seinem Physiotherapeuten, dachte er immer wieder über den Morgen nach.
Aufstehen, höfliche Floskeln austauschen - manchmal nicht mal das - und auf nimmer Wiedersehen verschwinden. So kannte er es. So machte er es seit Jahren und so wollte er es seit Jahren. Aber heute Morgen hatte er zum ersten Mal das Bedürfnis gehabt wieder zu kommen oder nicht zu gehen oder zu gehen und wieder zu kommen. Er stöhnte. Noch nie hatte eine Frau ihn so verunsichert. Noch nie hatte eine Frau ihn so aus der Bahn geworfen, so überrumpelt, so sehr an sich und seinem Leben zweifeln lassen. Noch nie hatte er ein Frau so sehr begehrt.

Nach dem Training ging er einkaufen, da Georgina, nachdem sie gehört hatte was geschehen war, angeboten hatte Casper abzuholen, damit Jace zurück zu Ella konnte. „Dein Dad sagt, dass sie zum Arzt muss. Er ist zwar Chirurg, aber hat keinen Röntgenblick."

Jace hatte seiner Mom zwar versichert, dass er alles tun würde, um Ella zu überreden ins Krankenhaus zu gehen, aber er schätzte sie nicht so ein, dass sie leicht umzustimmen war, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.

Er verstaute die Einkäufe in zwei Stofftaschen und lief zum Wagen. Seine Basecap hatte er tief ins Gesicht gezogen um Fanrummel zu vermeiden, obwohl er davon ausging, dass die Fans ihn mit dem Dreitagebart vermutlich sowieso nicht erkennen würden.

Angekommen bei Ella schloss er die Haustür auf und lief zum Treppenhaus. Sie hatte ihm nur für heute ihre Schlüssel gegeben, damit sie nicht würde aufstehen müssen, wenn er klingelte. Irgendwie gefiel es ihm nach Hause zu kommen, Einkäufe im Schlepptau, seine Frau wartete auf ihn. Seine Frau. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Man hatte er sich den Kopf verdrehen lassen. Unfassbar.

Er bemerkte belustigt, dass er beim
Weitergehen die Melodie von High Hopes summte. Seine Schritte wurden immer schneller und er nahm zwei Stufen auf einmal. Diese Erkenntnis musste er doch mit ihr teilen oder? Sie musste wissen, dass er sie wollte.

Vor der Wohnungstür angekommen, stellte er die beiden Taschen ab und schloss auf, nur um sich einen Augenblick später Auge im Auge mit einem blonden Typen wiederzufinden. Ella stand drei Schritte hinter ihm. Panik im Blick.

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Das Kapitel ist kürzer als alle anderen... ich bin mir nicht sicher, was angenehmer ist?! Kurze (<1000 Wörter) oder lange (>2000 Wörter)? Oder irgendwas dazwischen? Ich würde mich über Feedback echt freuen. <3

Du bist, was ich willWo Geschichten leben. Entdecke jetzt