Kapitel 2

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Claire

Sie drückte meine Hand und sagte: „Jetzt ist alles gut. Ich bin ja jetzt hier und passe auf dich auf."

An nichts anderes kann ich denken, als ich aus dem Auto aussteige und zum Flugzeug laufe. Ich sehe niemanden, denn wir sind ein wenig zu spät, wegen des Staus. Danke, schon an meinem ersten Tag falle ich auf, das will ich eigentlich nicht aber jetzt lässt sich nichts mehr daran ändern. Ich nehme meinen Koffer aus dem Stauraum des Autos, die Hilfe von meinem Fahrer lehne ich dankend ab. Aber ich fühlte mich nicht gut dabei, es war ungewohnt, etwas abzulehnen, auch wenn schon mehr als vier Wochen vergangen sind, seitdem ich im Krankenhaus aufgewacht bin. Laufen kann ich immer noch nicht richtig. Zum Glück mussten sie das Bein nicht brechen, ich hatte es mir offenbar einfach ziemlich fest vertreten. Dass ich die Hilfe von dem netten Fahrer abgelehnt habe, bereue ich jetzt. Mein Bein kann das Gewicht des Koffers fast nicht ziehen und humpelnd ist das Kofferziehen nicht möglich. Zum Glück bemerkt der Fahrer, dass ich unfähig bin den Koffer alleine zu ziehen, daher hilft er mir, obwohl ich vorhin die Hilfe abgelehnt hatte. Er gibt meinen Koffer einem Angestellten, welcher ihn in den Gepäckraum des internatseigenen Flugzeugs verstaut. 

Ich habe Angst, es ist meinerster Schultag, die Worte meiner Tante hallen in meinem Kopf nach. Sie hat damals gesagt, dass jetzt alles gut sei, und dass sie ja jetzt auf mich aufpasst. Auch wenn es noch so unrealistisch ist, beruhigen mich diese Worte. Ich weiss nicht weshalb, wahrscheinlich weil dieser Satz so viel Liebe enthalten hat, die ich auch jetzt noch spüre und wahrscheinlich auch für immer spüren werde. Ich bin angekommen. Ich höre schon Stimmen aus dem Innern des Flugzeugs, alles Stimmen von Männern. Zuerst verwirrt mich das bis mir wieder einfällt, dass es ein reines Jungen-Internat ist. Trotz allem bin ich lieber unter Männern als unter Frauen aber dazu später mehr. Ich gehe durch die Eingangsschleuse und laufe durch die Sitzreihen. Sobald mich die ersten Jungs sehen, verstummen ihre Gespräche und sie schauen mir verwirrt nach. Ich fühle mich, als ob ich ein rissiges Warzenschwein oder ein ähnliche ekelerregendes Tier bin. Sie beginnen nun alle auf mich zu zeigen und tuscheln miteinander. Bis sich einer traut, die Tatsache auszusprechen, dass ich einMädchen bin, sitze ich schon an meinem Platz. Ich sitze alleine, aber am Gang, was bedeutet, dass ich doch nicht die Letzte bin, die angekommen ist. Dass bedeutet wiederum, dass ich neben einem fremden Jungen sitzen muss. Ich bin soin meine Gedanken vertieft, dass ich den Jungen, der nun vor mir steht, nicht bemerkt habe. „Hallo, mach mal Platz!" Ich blicke auf, in wunderschöne blaue Augen. Sie sehen aus wie der Himmel an wunderschönen, sonnen erfüllten Tagen. Um seine Iris ist ein goldener Kreis, der aussieht, als ob er seine eigene Sonne hat. Jetzt huscht etwas über seine Augen, es ist so schnell weg, wie es gekommen ist. „Es-es tut mir leid ich h-habe dich nicht b-bemerkt." Ich stottere, super, was er wohl jetzt von mir denkt? Ich stehe auf und gehe aus der Reihe, so dass er sich hinsetzten kann. Als sein Arm meinen streift, zucke ich zusammen und ein kleiner, fast nicht hörbarer Schrei entweicht mir. Er, dieser Unbekannte mit den schönen Augen, sieht mich verwundert an. Wahrscheinlichist er es sich nicht gewohnt, dass ein Mädchen aufschreit, wenn er sie berührtIn seiner Nähe schmelzen die meisten eher dahin. „Eins." Ausatmen. „Zwei." Ausatmen. „Drei." Erst als ich bei 15 ankomme, sitzt er endlich. Ich nehme ebenfalls Platz, schaue aber, dass ich so nahe wie möglich am Rand sitze. Das Flugzeug ist gross, in einer Reihe sind nicht wie üblich drei Plätzte, sondernnur zwei. Dass der Unbekannte ziemlich viel Platz braucht, bedeutet, dass ich mich noch schmaler machen muss, um ihn keines falls zu berühren. Er sieht mich verwundert an und schüttelt den Kopf. Anschliessend steckt er seine Kopfhörer in seine Ohren. Nach nur kurzer Zeit beginnt sein Kopf, fast unmerklich, im Taktder Musik zu wippen. Er sieht mich immer wieder aus den Augenwinkeln an. Das sehe ich, da ich auch immer wieder zu ihm schaue, nur dass ich mir sicher bin, dass er es nicht bemerkt. Mir hingegen fällt sein Herüberlinsen auf, aber auch nur, weil ich jede Kleinigkeit sehe. Das habe ich mir in dieser Zeit aneignet,als ich für Tod gehalten wurde. Ich werde zwar immer noch für Tod gehalten, aber seit ich im Krankenhaus aufgewacht bin, hat ein neuer Abschnitt in meinem Leben begonnen. Wenn er zu mir herüberlinst sind seine Augen wie ein Spiegel seinerSeele. Ich erkenne jede Gefühlsregung, ein paar Sachen kann ich mir nicht erklären, manche jedoch schon. Ich sehe Trauer, dies ist eine Gefühlsregung, die ich mir nicht erklären kann. Ich sehe aber auch Spott, da kann ich mir sehr gut denken warum. Er denkt, ich bin im falschen Flugzeug und zu dumm, um es zu bemerken. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich schreie auf und fahre aus meinem Sitz, zum Glück war ich nicht angeschnallt, das hätte es noch peinlicher werden lassen. Aus Reflex katapultiere ich meine Hand in den Bauch des Angreifers. Ein saftiger Klatsch ist zu hören und dann ein Aufstöhnen. Ich merke, dass ich denTränen nahe bin. Der hübsche Junge neben mir entschärft zum Glück die Lage. Erbeginnt zu lachen und mehrere Jungs steigen in sein Lachen ein. Jetzt ruft ein Junge, den ich nicht sehen kann: „Tom, die hat's dir aber gezeigt." Tom hält sich immer noch den Bauch und funkelt mich böse an: „Hör mal Kleine, falls du es nicht bemerkt hast, das ist ein Flieger voller Jungs." Er grinst, doch es wirkt überhaupt nicht freundlich, in seinen Augen liegt der Ausdruck von... Angst? Er hat wohl Angst, dass ich noch einmal zuschlage. Davor muss er aber keine Angst haben. Ich bin schon verwundert, dass ich es einmal gemacht habe. Als ich einen kurzen Blick auf meine Hand werfe, merke ich, dass sie blau anläuft. Wieso? Hat er einen Eisenpanzer an? Ich lasse sie schnell in meiner Jake verschwinden. Er muss ja nicht sehen, dass meine Hand blau wird. „Das hier", er dreht sich einmal mit ausgestreckten Armen um sichselbst: „ist ein Flugzeug, das in unser Internat fliegt. Ein Jungen-Internat." Er betont das „Jungen" so sehr, dass man meinen könnte, er erklärt es einer wirklich unterbelichteten Person. Ich bringe immer noch kein Wort heraus. Doch in diesem Moment tritt Ruby in das Flugzeug. Alle Gespräche verstummen und alle setzten sich hin, sogar der Junge, den ich geschlagen habe, setzt sich hin. Der Junge, der neben mir sitzt, zieht seine Kopfhörer aus und richtet den Blick auf Ruby, welche nun alle begrüsst. Es kommt in einem Chor zurück. Dass alle sie Misses Blake nennen, finde ich lustig, doch um zu Lachen, ist gerade zu viel passiert. Ich verstehe nicht, weshalb mich niemand bei meiner Tante, der Schulleiterin des Internats, verpfeift oder nur sagt, dass hier ein Mädchen sitzt. Alle halten dicht. Doch als sie sich umdreht und gerade gehen will, ruft der Junge, den ich aus Reflex geschlagen habe: „Entschuldigen Sie Miss, ich glaube, es ist beim Einsteigen ein Fehler unterlaufen." Er sieht mich mit einem so verhassten Blick an, dass es mir Angst einjagt. Doch Ruby dreht sich nicht um, sondern sagt nur bestimmt: „Es hat alles seine Richtigkeit, aber danke Tom." 

Und habt ihr schon eine Ahnung worum es geht? 
Was macht sie auf einem Jungeninternat?

 

Die Narben der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt