Kapitel 16

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Daemon

„Hältst du mich jetzt für einen schlechten Menschen?" 

Darauf war ich jetzt nicht vorbereitet. Weshalb sollte ich sie für einen schlechten Menschen halten? 

Eher für den nettesten, den ich je kennengelernt habe und den, mit dem meisten Mitgefühl. Genau das sage ich ihr auch. Aber sie ist damit nicht zufrieden. 

„Ich meine das, was mit meiner Freundin geschehen ist. Und ich ihr nicht geholfen habe." Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, da ich mich noch nicht auf den Rücken gedreht habe. Ich versuche mich aufzusetzen aber sie drückt mich behutsam wieder aufs Bett. 

„Ich halte dich nicht für einen schlechten Menschen." 

„Wieso? Ich wusste, was ihr angetan wurde und habe nichts dagegen unternommen und deswegen ist sie dann gestorben." Sie macht sich tatsächlich deshalb Vorwürfe. Das ist doch verrückt. 

„Niemand hält dich darum für eine schlechte Person. Da bin ich mir ganz sicher." Die Erleichterung ist ihr ins Gesicht geschrieben. „Danke." 

Mit diesem Wort ist ihr Schutzschild wieder da. Sie kann das gut, Gefühle verbergen. Ihren ganzen Schmerz zu unterdrücken kann nicht gesund für sie sein. Man merkt aber, dass sie nichts daran ändern möchte. 

Sie möchte alle anderen im Unwissen lassen. Aber warum? Mir hat sie gesagt, dass dies auf Dauer keine Lösung ist, aber sie selbst macht es dennoch. 

Es klopft an der Tür und Ben ruft in mein Zimmer: „Hey, Alter. Mach mal hinne, das Training beginnt gleich. Ich glaube nicht, dass dich der Coach das versäumen lässt." 

Scheisse! Heute ist Training, das letzte vor dem grossen Spiel. Ich möchte mich eben aufsetzen, doch Veeda steht auf, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und geht ins Badezimmer. Mit einem Tuch, das sie um ihren Körper gewickelt hat, öffnet sie die Tür einen Spalt breit 

„Er kann leider gerade nicht an die Türe kommen. Er hat... nichts an. Ich glaube nicht, dass er es zum Training schafft." Ich kann mir Bens Gesichtsausdruck genau vorstellen, denn ich habe bestimmt denselben. 

Sie hat doch nicht etwa das gesagt, was sie eben gesagt hat? Sie schliesst die Tür wieder. „Was war das denn gerade?" „Gern geschehen." 

Ich schaue ihr verwirrt nach, während sie das Tuch zurück ins Badezimmer legt. „Er hätte nicht aufgegeben, jetzt glaubt er, du... Nun ja, du weisst schon. Daher wird er sich eine glaubhafte Ausrede für den Coach überlegen." 

Ihr Gesicht nimmt eine hübsche rote Farbe an. „Okay, also, ähm..." Süss, wie sie versucht, das Thema zu wechseln. 

„Dein Rücken sieht viel besser aus, die neueren... Schnitte sieht man zwar noch, aber der Rest wird bald verschwinden. Zum Glück sind die Narben nicht so alt, je älter sie sind, umso länger geht es, bis sie verschwinden." 

Woher weiss sie so viel über diese Salbe? Sie ist erst seit neustem auf dem Markt, eine richtige Errungenschaft der Medizin. „Ich... Oh man." 

Sie lacht verunsichert und greift in ihre hintere Hosentasche. In ihrer Hand ein kleines Fläschchen, das verdächtig nach etwas aussieht, das ich kenne. 

„Also, ich war auf dem Dach und habe dir das mitgebracht. Obwohl ich es keinesfalls gut finde, dass du das Zeug trinkst. Aber sie ist ja klein, nur 0.25 Liter und solange du nicht wieder zwei von den Grösseren trinkst, sehe ich kein Problem darin, dass du eine haben kannst." 

Sie schwenkt die Flasche Vodka in ihrer Hand. Sie war auf dem Dach? Hat sie die Zeichnungen gesehen. Bitte nicht. Bitte lass sie die Zeichnungen nicht gefunden haben. 

„Es tut mir leid, ich dachte du würdest dich freuen." Sie weicht zurück als hätte sie Angst vor mir... „Nein, alles gut. Danke." Sie hat meinen Gesichtsausdruck falsch interpretiert. Glaube ich...

Und obwohl ich lächle merke ich, dass sie mir nicht glaubt. Aber um ehrlich zu sein, ich würde mir auch nicht glauben. 

Ich strecke meine Hand aus und nehme ihr das Fläschchen ab und stelle es auf meinen Nachttisch. Sie sieht mich verwirrt an. 

„Ich trinke nur, wenn es mir nicht so gut geht." Sie nickt nur und steht auf. „Ich komme heute Abend noch einmal, um mir deinen Rücken anzusehen und vielleicht nochmals einzucremen. Versuch zu schlafen und ich kümmere mich um alles. Okay?" 

Ich höre sie wie durch einen Nebel. Sobald die Tür geschlossen ist, schlafe ich ein.

Es klopft an der Tür. Das ist bestimmt Veeda. „Komm rein." Die Tür öffnet sich augenblicklich. „Eh, Alter. Alle Achtung. Die hast du aber schnell rumgekriegt." 

Ben? Scheisse! Ich setzte mich auf. Schmerzen habe ich kaum noch und mein Shirt habe ich auch wieder an. Zum Glück! „Was meinst du?" 

Doch sobald ich es ausgesprochen habe, fällt es mir wieder ein. Veeda hat, damit ich nicht zum Training muss, gesagt, dass ich nicht könne weil ich nichts anhätte, ein lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht bei der Erinnerung wie peinlich ihr die Situation war. 

„Was ich meine?", er lacht, „Du hast es nicht lassen können! Du weisst, dass du jetzt Gefahr läufst, rausgeschmissen zu werden, oder? Hat es sich wenigstens gelohnt?" 

„Ben! Lass dieses Thema meine Sorge sein. Klar?" „Ja, alles klar. Aber ich dachte, du hättest was mit Bella. Zumindest immer mal wieder." 

Auf einmal wirkt er niedergeschlagen. „Ich muss mich bei dir echt noch entschuldigen. Was ich letztens beim Abendessen gesagt habe, war nicht okay. Alles wieder gut?" 

Das ist das witzige bei Ben, nach einer Entschuldigung ist für ihn alles vergessen und vergeben. „Klar, alles gut." 

„Super. Ich gehe jetzt Abendessen. Du kommst nicht mit, oder?" Er lächelt und schiebt dann noch hinzu: „Weil es dir ja nicht gut geht, oder hast du das schon vergessen?" 

Er klatscht mich ab und geht hinaus. „O hey, Veeda. Ja, er ist drin und wach ist er auch. Perfektes Timing, ich muss nämlich gerade gehen." 

„Okay, danke." Sie schliesst die Tür langsam hinter sich. Aber ich sehe noch, wie Ben mir beide Daumen entgegen streck. Echt unmöglich. 

Veeda geht ins Bad und kommt erst nach 5 Minuten zurück. „Was hast du gemacht?" Sie zuckt mit den Schultern und sagt nur, dass, wenn ich es sehe, es wisse. 

Damit ging sie wieder hinaus. Merkwürdig, was hat sie bloss? Später kommt Ben mit Essen zurück, das er mitgenommen hat und erzählt mir vom Training. 

Welche Ausrede er sich für mich hat einfallen lassen, sagt er aber nicht, sondern lacht nur. Auch er geht wieder und ich bin alleine.

Ich stehe auf und gehe duschen. Beim Abtrocknen sehe ich mir meinen Rücken im Spiegel an. Wow, man sieht fast nichts mehr! Ausser ein paar kleinen, feinen Stichen und natürlich die neueren Narben. Ich nehme die Salbe aus dem Schrank und möchte mich nochmal selber eincremen. Obwohl mein Rücken in letzter Zeit schon viel überstehen musste...

Doch als ich die Dose öffne, ist sie nicht wie erwartet fast leer, sondern bis zum Rand gefüllt. Das hat Veeda also hier drinnen gemacht. Aber woher hat sie die Salbe? 

Um sich etwas liefern zu lassen, braucht es Tage, wenn nicht sogar Wochen. Also muss sie diese bei sich haben. Aber Warum? Sie hat doch keine Narben. 

Aber wenn ich es mir recht überlege, habe ich ausser ihrem Gesicht und ihren Händen noch kein Stück Haut gesehen, obwohl es Sommer ist und die meisten Mädchen um diese Zeit so wenig wie nötig anhaben. 

Sie läuft mit langen Hosen und einem langen Shirt herum. 

Andererseits ist sie hier in einem Jungen Internat und wird, dank ihrer Kurven und ihrem Aussehen, schon genug angestarrt. Vielleicht fühlt sie sich einfach nicht wohl wenn ihr alle hinterher sehen und möchte es nicht noch schlimmer machen, indem sie viel Haut zeigt. 

Haltet ihr Veeda/Claire für einen schlechten Menschen?




Die Narben der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt