-----Sam-----
Léandra deutet auf das Drahtseil. Jetzt erkenne ich auch, was es ist. Eine Seilbahn. Sie führt auf eine Insel in der Mitte des Sees.
,,Du zuerst'', fordert sie mich auf.
,,Okay...'' Zögerlich gehe ich darauf zu. Ich hole Schwung und sause dann über den See. Das Gefühl ist einfach toll. Das Wasser unter mir glitzert im Licht der untergehenden Sonne. Als ich die Insel erreiche, gebe ich der Seilbahn einen Stoß. Sie kommt bis zur Hälfte, dann zieht Léandra sie mit einem langen Haken zu sich zurück.
Während Léandra ebenfalls auf die Insel herüber fährt, sehe ich mich ein bisschen um. Der Strand der Insel besteht aus hellem Sand, der aber aussieht, als wäre er hier aufgeschüttet worden. Dahinter beginnt ein Wald. Es ist total ruhig und schön hier. Ich setze mich hin und vergrabe meine Hände in den feinen Körnern. Léandra springt mit Schwung von der Seilbahn und lässt sich dann neben mich fallen. Wir schweigen.
,,Du musst mir nicht erzählen, was es mit dem Grab auf sich hat, wenn du nicht möchtest.", sage ich behutsam.
Léandra sieht auf den stillen See hinaus und schluckt. ,,Doch, ich will es dir sagen. Du sollst mich so kennenlernen, wie ich wirklich bin und die Geschichte, die jetzt kommt, ist einfach ein Teil von mir."
Sie sieht mich für den Bruchteil einer Sekunde unsicher an, dann richtet sie ihren Blick wieder in die Ferne. Als ich keine Anstalten mache, sie zu unterbrechen, sondern ihr nur ermutigend zunicke, atmet sie nochmal tief durch.
,,Es war vor zwei Jahren'', beginnt sie leise zu erzählen. ,,Meine Cousine Ira und ich waren mit unserer gemeinsamen besten Freundin Lilly im Einkaufszentrum. Ira war nur ein Jahr älter als Lilly und ich, deswegen haben wir viel zusammen unternommen. Beim Shoppen an diesem einen Tag stolperte Ira uf der Rolltreppe und fiel ungefähr zehn Stufen nach unten. Erschrocken sind wir schon alle, denn der Sturz sah ziemlich heftig aus, aber Ira behauptete, es ginge ihr gut. Sie muss auf den Kopf gefallen sein, nur das haben weder Lilly noch ich gesehen. Wir haben uns trotzdem kurz mit Ira hingesetzt und sie hat etwas getrunken, doch sie bestand nach wie vor darauf, das alles in Ordnung war und wollte weitergehen. Vielleicht hat ihr in diesem Moment auch wirklich nichts wehgetan, ich weiß es nicht."
Sie lächelt mich traurig an. Ich spüre, dass diese Geschichte nicht gut ausgehen kann.
,,Im nächsten Laden brach sie dann einfach zusammen, ganz ohne Vorwarnung. Ich bin vor Sorge fast verrückt geworden und war nicht mehr fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, aber zum Glück waren da noch viele andere Leute in dem Geschäft. Eine Verkäuferin rief den Notarzt und Lilly und ich fuhren mit ins Krankenhaus. Lilly hat meine Familie angerufen und sich um alles gekümmert, weil ich unter Schock stand. Ich habe irgendwie geahnt, dass Iras Zusammenbruch mit dem Sturz zu tun hatte. In der Notaufnahme konnte man nichts äußerliches feststellen, doch bewusstlos war sie immer noch. Und eine Viertelstunde später ist sie dann einfach gestorben, so schnell, dass man nichts mehr für sie tun konnte.''
Sie macht eine Pause und schnieft. Ich schaue betreten zu Boden. Das ist so schrecklich! Ich möchte etwas sagen, aber ich finde nicht die richtigen Worte. Léandra hingegen redet einfach weiter.
,,Die Ärzte sagten uns später, dass sie Blutungen im Gehirn hatte. Ich habe nur gedacht, dass wir schneller reagieren hätten müssen.''
Sie vergräbt das Gesicht in den Händen. ,,Ich meine, das war ja nicht irgendein Mensch. Das war meine Cousine Ira, zu der ich mit jedem meiner Probleme kommen konnte. Die mir das Walzertanzen beibrachte, die in unseren gemeinsamen Freund Henry verliebt war. Die schneller schwimmen konnte als jeder Delfin und der Superstar des Schwimmteams war. Deren Augen jedes Mal aufleuchteten, wenn sie eine neue verrückte Idee für ein Abenteuer hatte, das sie dann um jeden Preis mit mir und Lilly erleben wollte. Ich vermisse sie so schrecklich, jeden einzelnen Tag."
Ich weiß nicht, was ich tun soll, um Léa zu trösten, also nehme ich sie einfach in den Arm und halte sie fest, bis sie aufhört zu weinen. Lange Zeit sagen weder ich noch sie etwas. Als sie sich wieder etwas gefangen hat, setzt sie sich aufrecht hin und atmet tief ein.
,,Okay, was jetzt kommt, weiß niemand außer Lilly und meinen anderen besten Freunden Liam und Henry und meiner Familie. Du musst das also bitte für dich behalten, ja?"
Ich nicke. ,,Natürlich."
,,Nachdem die schlimmste Zeit der Trauer vorbei war und der Alltag bei uns wieder einkehrte, soweit das möglich war, habe ich erst normal weitergemacht und versucht meine Familie zu trösten. Ich habe meinen eigenen Schmerz verdrängt, um mich abzulenken und etwas zu tun zu haben. Aber als es ihnen wieder besser ging, bin dann ich total zusammengeklappt. Es war, als wäre ich in ein tiefes schwarzes Loch gefallen. Zuerst hat es niemand bemerkt, auch ich selber nicht. Es kam langsam und geriet dann so schnell ins Rollen, dass ich es von selbst überhaupt nicht mehr stoppen konnte. Ich habe mich ständig auf Trab gehalten und mich mit so vielen Hobbies und Aufgaben überladen, dass ich gar keine Zeit hatte zu denken. Doch nach und nach kamen dann doch die finsteren Gedanken, in ruhigen Momenten, Dinge, die man nie vor anderen sagen würde. Wenn ich alleine in meinem Zimmer war, stellte ich mich vor den Spiegel und wurde überwältigt von Hass gegenüber der Person, die ich sah. Ich habe mir selbst die Schuld an Iras Tod gegeben und manchmal tue ich das immer noch. Die Welt bestand für mich nur aus Dunkelheit, die keinen Platz ließ für positive Gedanken. Es war eine Zeit voller Lügen. Ich log meine Familie an, meine Freunde und auch mich selbst. Ich spielte allen das starke Mädchen vor, dass ich gerne gewesen wäre, während ich innerlich am Verlust meiner Cousine und an meinem Selbsthass zerbrach. Ich dachte, wenn ich perfekt und glücklich aussehen und meine Fassade aufrecht erhalten könnte, dann könnte ich auch besser damit umgehen, sie verloren zu haben." Léandra seufzt. ,,Heute weiß ich, das das ein Fehler war, aber ich war einfach so furchtbar traurig und ich steckte in meiner Verzweiflung fest. Ich habe meine Gedanken und Gefühle lange vor meinen Freunde und meiner Familie versteckt, aber schließlich haben sie doch bemerkt, dass es mir in Wirklichkeit überhaupt nicht gut ging. Ich bin dann in Therapie gegangen, zuerst nur wegen meinen Eltern, aber nach einer Zeit habe ich selbst bemerkt, dass ich die Hilfe dringend nötig hatte. Irgendwann konnte ich auch wieder sehen, dass das Leben nicht nur Schattenseiten hat. Ich wusste, dass Ira nicht gewollt hätte, dass ich mich selbst aufgebe. Ich werde die Zeit nach Iras Tod nie vergessen, denn es waren die dunkelsten Tage meines Lebens. Es geht mir jetzt viel besser, aber an schlechten Tagen habe ich immer noch mit mir zu kämpfen."
Léandra verschränkt verlegen ihre Hände und sieht mich nicht an.
,,Jetzt weißt du alles, aber bitte sag niemandem etwas davon, das möchte ich wenn dann selber tun.''
,,Versprochen. Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Danke, dass du es mir amvertraut hast. Das bedeutet mir wirklich viel. Mehr als du dir vorstellen kannst."
Ich drücke Léandras Schulter und sie lehnt sich an mich und dann schweigen wir schon wieder, während ich das Ganze verarbeite und Léandra sich beruhigt. Ich werde es natürlich nicht weitererzählen, ich finde es sowieso toll von ihr, mir das alles anzuvertrauen. Ich hätte mir das, glaube ich, zehnmal überlegt. Léandra hat ganz schön was durchgemacht und ich bewundere sie dafür, dass sie es geschafft hat, weiterzuleben. Ich meine, ich könnte mir nicht vorstellen, was mit mir passieren würde, wenn meine Schwester Gabriella sterben würde.
Nach einer Weile richtet sich Léandra auf und lächelt verlegen. ,,Diese Geschichte ist so ein Stimmungskiller. Jetzt mach nicht so ein Gesicht."
Ich sehe Léandra an. Sie ist bestimmt die Einzige, die in so einer Situation nicht ihren Humor verliert und sogar noch Witze machen kann. Ihre Augen sind rot vom Weinen, doch sie sieht schon wieder viel fröhlicher aus. Und sie ist immer noch wunderschön. Ihre geschwungenen Lippen, ihre dicken dunkelbraunen Haare, die ihr geflochten über die linke Schulter fallen...
Bevor ich ins Schwärmen gerate, stoppe ich mich schnell. Ich bin ja schließlich nicht in Léandra verliebt oder sowas. Außerdem hat sie im Moment sicher noch genug mit sich selbst zu tun und könnte überhaupt niemanden gebrauchen, mit dem sie ständig zusammen sein würde. Ich bilde mir diesen Anflug von Gefühlen sicher nur ein.
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Look after you
RomanceGeschrieben: 2015 - Anfang 2016 Léa und Sam können sich nicht leiden. Léa hält Sam für einen arroganten Macho und er sie für eine besserwisserische Zicke. Als Sam plötzlich auf Léas Hilfe angewiesen ist, lernen sich die beiden näher kennen und fange...