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Ich sprang förmlich in seinen Wagen, da stand er noch nicht mal. Er musterte mich kurz. Hektisch schnallte ich mich an, sortierte die kleine Reisetasche zwischen meine Füße und sah danach zu ihm auf, als ich merkte, dass wir noch immer nicht fuhren. "Was ist? Fahr schon." Blaffte ich ihn an. Er runzelte die Stirn. "Dir auch einen schönen Tag." Maulte er und wendete in der nächsten Einfahrt. 
Ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Er war aufgewacht. Jakob war aufgewacht. Alles was in meinem Kopf war, war dieser Fakt. Er war wach. 
Doch plötzlich kamen auch Fragen in meinen Kopf. Er war wach. Aber wie? Erinnerte er sich an mich? Wusste er wie lange er weg war? Erinnerte er sich an unsere Eltern? Konnte er Reden? Konnte er sich bewegen? 
Nach jeder Untersuchung hatte mich ein weiterer Arzt über die möglichen Auswirkungen informiert, die er erlitten haben könnte. Sein Gehirn war geschwollen und den Schaden könne man erst im vollen Ausmaße erkennen, wenn er aufwachen würde. Aufgeregt rieb ich mir die Hände. Meine Ohren dröhnten. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. 
"Keine Ahnung was los ist, aber so solltest du nicht Auto fahren. Hast du was genommen? Bist du high?" Ungläubig sah ich ihn an. "Was? Nein ich bin nicht high." Schnaubte ich pampig. "Und was gibt es in München so dringendes?" Wollte er wissen. Vermutlich sollte es irgendwie beiläufig klingen, doch er klang wie ein neugieriger Zwölfjähriger.  "Eine ganze Menge gibt es in München." Erklärte ich und er schnaubte. "Im ernst, warum musst du nach München?" Ich sah ihn kurz an. Ich mochte es nicht wenn jemand in meinem Privatleben herumstocherte. Und ich wusste, dass es ihn wirklich interessierte, doch ich blockte ab. Wie ich es immer tat. "Familiensache." Sagte ich also knapp und hoffte er würde es gut sein lassen. Doch er tat es nicht. "Familiensache? Ich wusste nicht..." Begann er und ich unterbrach ihn. "Weil es dich auch nichts angeht!" Fuhr ich ihn an und ließ meine gesamte Aufregung explosionsartig an ihm aus. Wieder sah er mich an. "Wenn das wegen dem ist, was passiert ist..." Ich schnaubte. "Wir waren uns doch einig..." Wieder unterbrach ich ihn. "Ich habe keine Zeit und Lust auf das Geplänkel. Ich kann dich beruhigen. Es ist nicht wegen... Was auch immer das war. No hard feelings. Ich mag es nur einfach nicht wenn jemand fremdes in meinem Privatleben herumstochert, klar?" Sagte ich und wischte meine Hände an meiner Hose ab. "Jemand fremdes? Ja, klar!" Jetzt klang er wütend. Doch es war mir egal. Ich saß wie auf heißen Kohlen. Das mit Micha musste ich später klären. Viel später. 
Ich sprang aus dem Wagen, schmiss meine Tasche neben Kathis Auto und rannte zum Haus. Ohne Klopfen betrat ich es und sah Kathi gerade die Treppe herunterkommen. "Schlüssel? Papiere?" Fragte ich ohne ein Hallo. Sie sah mich irritiert an, reichte mir aber die Schlüssel. "Papiere sind in der Sonnenblende." Erklärte sie. Schnell umarmte ich sie, drückte sie fest an mich und legte meine gesamte Dankbarkeit in diese Umarmung. "Danke, danke, danke." Flüsterte ich, ließ sie los und wandte mich um, stieß vor der Tür mit Micha zusammen, doch er fing mich förmlich auf. "Danke." Flüsterte ich, machte mich aber zeitgleich von ihm los und rannte zum Auto. Schon wieder schossen mir die Tränen in die Augen. 
In Windeseile hatte ich die Tasche auf den Beifahrersitz geladen und startete den Motor. Mit quietschenden Reifen fuhr ich los, brauste auf die Straße und fuhr schneller als erlaubt. 
Meine Aufregung wuchs und auch meine Angst. Was wenn er sich wirklich nicht erinnerte? Jakob war alles was ich hatte und für über ein Jahr hatte es nichts anderes mehr gegeben als er. Es hatte mich viel Überwindung gekostet mich von ihm zu entfernen und mein schlechtes Gewissen brachte mich fast um. Das schlimmste aber war, dass ich beinahe dabei war ihn irgendwie zu vergessen. Zu vergessen was für ein Leben ich vor ihm geführt hatte. Und vergessen was für einem Leben ich entkommen war. 
Es gab Momente da hatte ich die Hoffnung verloren. Hatte nicht mehr daran geglaubt, dass er aufwachen würde. Und es hatte Augenblicke gegeben in denen ich dachte, dass es vielleicht nicht so schlecht wäre. Ich wollte nicht das er in einem Leben gefangen wäre. Ein Leben das ihm nehmen würde was er so sehr geliebt hatte. Er würde vielleicht nicht mehr Gitarre spielen können. Oder vielleicht waren es einfachere Dinge die er nicht verstand. Nicht mehr konnte. Sprechen, essen, laufen. 
Ich wusste das ich alles schaffen würde. Für ihn würde ich alles tun. Er war meine Familie und er war wieder da. Aber was wenn er es nicht schaffen wollte? Tränen quollen aus meinen Augen und ich wischte sie hastig weg, um mir nicht die Sicht zu rauben. Ich hielt nicht an. Kein einziges Mal. Ich wollte keine weitere Verzögerung mehr. Ich hatte über zwei, verdammte, Jahre gewartet. Gewartet darauf das dieser Augenblick kam. Das dieser Anruf kam. Dieser oder jener, der mir den Halt weggerissen hätte. Der Anruf den ich jeden Tag erwartet hatte im letzten Jahr und der nie gekommen war. Der Anruf der auch in Vergessenheit geraten war, den ich mit keinem Gedanken mehr erwähnt hatte. Der Anruf in dem man mir sagen würde, er hätte es nicht geschafft. Oder der Anruf in dem man mir nahelegte ich solle Entscheiden wie es weiterginge. Denn das hätte ich nicht geschafft. Ich hätte nicht entscheiden können, dass alles was mir noch von meiner Familie geblieben war dann endgültig weg wäre. 
Ich parkte den Wagen und erschauderte, als ich die altbekannten Wege ging. Dieses riesige Gebäude war mal mein Zuhause gewesen und es fühlte sich vertraut und fremd zugleich an. Ohne mich umzuschauen ging ich durch den Eingang und steuerte Station 101 an. Sie lag auf der östlichen Seite des Geländes und war eine der größten Stationen Deutschlands. Was auch immer das heißen mochte. Ich hatte das von einem Plakat das vor dem Zimmer hing in dem Jakob lag. 
Da ich nicht wusste, ob er noch immer in Zimmer 101.13 untergebracht war, steuerte ich das Schwesternzimmer an und fand eine Junge Frau im Kittel, die ich nicht kannte. Es wäre schön gewesen eine Schwester zu sehen die ich kannte und die mich kannte. "Entschuldigung?" Sprach ich sie an. Mit einem Lächeln blickte sie auf und sah mich fragend an. 
"Ich bin auf der Suche nach dem Zimmer von Jakob Reinold. Liegt er noch in 101.13?" Fragte ich mir bebender Stimme. Sie runzelte die Stirn. "Darf ich fragen wer sie sind?" Ich schaffte es kaum die nächsten Worte herauszuwürgen. Doch ich kniff die Augen zusammen. "Ich bin Marie Reinold. Ich bin seine Schwester." 

Will you be my SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt