19| Ouch!

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Es war Dienstag. Und Jakob war auf den Beinen. Nun er bewegte sich nur mit dem Rollstuhl, stand für eine Minute am Tag, doch er hatte in den letzten drei Wochen Fortschritte gemacht. Aber für ihn ging es nicht schnell genug. Er wollte alles und das sofort. Dabei hatte er noch mindestens ein Jahr Reha vor sich. 
"Wann bist du wieder hier?" Wollte er wissen und ich lächelte sanft. "Ich werde dich in einer Woche abholen und dann mit dir ins Hotel fahren." Er nickte. Da meine Wohnung im dritten Stock lag, war es unmöglich zu mir zugehen. Zuerst hatte ich überlegt mit ihm nach Hause zurückzukehren, doch er hatte es abgelehnt und ich war nicht dagegen. Immerhin war ich seit zwei Jahren nicht mehr dort gewesen. Mein Leben dort war nichts woran ich erinnert werden wollte. 
"Stellst du mich deinen Freunden vor? Deinem Freund?" Ich lachte. "Das Thema hatten wir schon. Ich habe keinen Freund und nur eine Freundin. Ich werde sie dir vorstellen, wenn du dich benimmst." Sagte ich und er schüttelte belustigt den Kopf. Doch ich kannte ihn, wusste das ihn etwas interessierte, was er nicht fragte. "Was ist es? Ich kann dich denken hören." Sagte ich und griff nach seiner Hand. Er lächelte leicht. "Weiß deine Freundin von mir. Also das ich..." Er sah an sich runter. "...so bin?" Wollte er wissen und ich senkte den Blick. "Ich habe mit ihr nie über meine Familie gesprochen. Sie weiß, dass ich einen Bruder habe und das meine Eltern tot sind. Mehr nicht." Er nickte. "Gehst du deswegen nie an dein Handy?" Wollte er ebenfalls wissen. "Ich habe mit ihr gesprochen, doch keine Details verraten. Ich bin mit ihrem Auto hier." Wieder nickte er. "Du musst sie mir nicht vorstellen, wenn..." Er brach ab. "Wenn was?" Bohrte ich nach, doch er zuckte nur mit den Schultern. "Jakob, du bist mir nicht peinlich. Du bist ein Wunder. Das was du durchmachst, würden die meisten Menschen nicht schaffen. Aber du meisterst das wie ein Profi." Kalt lachte er auf, dann wurde er ernst. "Du hast das auch durchgemacht. Von einem auf den anderen Tag warst du alleine. Hast dich um dich und um mich gekümmert. Um die Beerdigungen, um das Haus, den Papierkram." Sagte er und ich blickte ihn an. Ich hatte ihm davon nichts erzählt. Aber er war schlauer als ich. 
"Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich es nicht geschafft. Ich hätte dich nicht dort liegen sehen können. Jeden Tag." Flüsterte er traurig. "Es tut mir leid." Fügte er leise hinzu und ich wischte mir wieder eine Träne aus dem Gesicht. "Nicht deine Schuld." Sagte ich nur und drückte seine Hand. "Ich muss jetzt los. Du hast meine Nummer. Ruf mich jeden Tag an!" Mahnte ich, erhob mich, bückte mich aber nochmal und küsste ihn auf die Wange, bevor ich zum Parkhaus schlenderte. Ich wandte mich noch ein paar Mal um, wollte sichergehen, dass er dort war. Ich wollte nicht gehen. Er war mein Bruder und ich hatte ihn zurück. Endlich. 
Meine Laune stieg, als ich im Auto war und ich mich auf den Weg zurück machte. Ich würde ein Hotelzimmer finden das perfekt für ihn war. Wir würden die Reha durchmachen und dann würde er bei mir einziehen. Ich hatte das Gästezimmer frei. Und er konnte sich überlegen, was er machen wollte. Ich hatte ihm schon als Willkommens-Geschenk eine Gitarre besorgt. Keine teure, aber eine auf der er erstmal spielen konnte. 
Meine Laune war mehr als gut, als ich vor Kathis Haus hielt. Ich stellte den Wagen neben meine alte Kröte ab und erst jetzt fiel mir ein, dass ich Micha nicht meinen Schlüssel gegeben hatte. Abgeschleppt hatte er ihn allerdings trotzdem. Seit dem Morgen hatte ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich hatte seine Anrufe und - nur mit größter Mühe - seine Nachrichten ignoriert. Ich wollte mich auf Jakob konzentrieren und das Micha-Drama hintenanstellen. Zumal ich es nicht über mich gebracht hätte seine Stimme zu hören, denn ich hatte ihn seltsamerweise auch so schon vermisst. 
Ich klopfte an die Tür und wartete kurz, bevor ich eintrat. Es war ruhig, doch das hieß nichts. Kathis Zimmer lag im zweiten Stock. Strategisch sehr gut platziert. Dort ging sie nämlich niemandem auf den Keks. 
Langsam wagte ich einen Blick in die Küche, doch dort war niemand. Ich wollte mich gerade umdrehen und die Treppe hinaufgehen, da spürte ich Hände an meiner Hüfte. Ich spürte wie er mich an sich zog und sein Gesicht in meinen Haaren vergrub. Sofort begann mein Körper an zu zittern, als wäre ich ein Teenager. Ich begann zu beben, fuhr mit meinen Fingern über meinen Kopf in seinen Nacken und strich über seine Haut. 
"Hey." Flüsterte ich leise, hauchte es schon beinahe. "Hey." Antwortete er nur und ließ zu, dass ich mich in seinem Griff zu ihm drehte. Er war so wunderschön wie immer. Doch er sah müde aus, kam er von der Nachtschicht? Allerdings hatte ich keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen, denn er presste seine Lippen auf meine und raubte mir damit jeden Gedanken, den ich vielleicht hätte haben können. Seine Lippen fühlten sich so warm und weich und gleichzeitig so hart an. Es war als würde er all die Wut die er hatte, all die Sehnsucht und die Verzweiflung in diesen Kuss stecken und ich erwiderte jedes dieser Gefühle mit einfachem Verlangen. 
Er schmeckte so gut. Ich wollte mehr von ihm. Wollte ihn berühren. Meine Finger fuhren - verzweifelt auf der Suche nach nackter Haut - unter sein Shirt. Berührten seine warme Haut und zogen ihn näher an mich heran, während er sich gegen mich und mich gegen den Türrahmen drückte. Mein inneres begann zu glühen, ich wollte ihn so sehr. Alles tat weh und ich spürte erst jetzt wie sehr ich ihn vermisst hatte. Wie sehr ich ihn wollte.
Aber da war etwas anderes, was ich kaum benennen konnte. Er war rau, beinahe grob ohne mir dabei weh zutun. Aber ich spürte es. Ich spürte Wut. War er wütend? War er sauer? Weil ich ihn so angemacht hatte? Weil ich ihn ignoriert hatte? Nun ich wäre sauer auf mich gewesen. Ich wäre absolut, total angepisst gewesen. Immerhin waren es ganze drei Wochen und zugegebenermaßen wusste er nichts von mir. Andererseits waren wir nicht zusammen. Ich war noch nicht bereit mein inneres mit ihm zu teilen, die schlimmste Zeit meines Lebens mit ihm durchzugehen. Ihm zu erzählen, dass es Zeiten gab in denen ich nicht mehr weiterleben wollte. Dafür schämte ich mich. Wie sollte ich das jemals jemandem sagen? Wie sollte ich das Kathi erzählen oder anderen Freunden? Wir waren nicht mal Freunde, oder? Er war der große Bruder meiner besten Freundin? Machte einen das zum Freund? 
"Schön das du zurück bist." Keuchte er, als er begann meinen Hals zu küssen. Ich stöhnte laut. "Ja." Hauchte ich geistreich. Ich war völlig aus dem Konzept gebracht. Nur ein Kuss und er hatte mich völlig im Griff. Er hatte mich um den Finger gewickelt und ich wusste, er war die größte Gefahr in meinem Leben.
Er hielt inne. Dann zog er sich etwas zurück. Ich sah es in seinem Blick, bevor er etwas sagte. Ich wappnete mich, doch trotzdem taten seine nächsten Worte weh. "Dann kannst du mir ja deinen Autoschlüssel geben, dann kann ich die Schrottkiste fahrtüchtig machen." Sagte er kalt. Eiskalt. Ich nickte nur zögerlich. Er zog sich komplett zurück. Nicht nur das er einen Schritt zurücktrat, ich sah, wie er sich wirklich zurückzog. Sein Gesichtsausdruck wurde irgendwie kühl, distanziert. Beinahe wäre ich zusammengezuckt. "Es tut mir übrigens leid. An dem Morgen hab ich mich wie ein Arsch benommen." Flüsterte ich leise und er zuckte mit den Achseln. Ich kramte meinen Hausschlüssel aus der Tasche und pfriemelte meinen Autoschlüssel vom Schlüsselring. Er nahm ihn mir ab und ging zur Tür. Bevor er das Haus verließ sagte er noch: "Ist ja nicht so das ich Nachts nicht schlafen kann, weil du deine Tage hast." Er zuckte mit den Schultern und ging.  Ouch! Das hatte gesessen. 

Will you be my SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt