✞𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 6✞

290 24 4
                                    

Schlagartig öffne ich meine Augen.
Etwas hat mich geweckt. Ein nervtötend lautes Geräusch- ein Wecker, wie ich kurz darauf realisiere.
Chenle, welcher wohl zeitgleich wie ich aufgewacht ist, greift nach seinem Handy und erlöst uns von dem Lärm.
Meine Augen bleiben offen, während sich seine gleich wieder schließen.
Ich muss gestern wohl schnell eingeschlafen sein… 

Mit müden Augen starre ich den Älteren an.
Unsere Gesichter sind sich nahe.
Als ich bemerke wie nahe wir uns wirklich sind, erröten meine Wangen etwas.
Wie lange ich ihn anstarre, weiß ich nicht, aber ich tue es so lange, bis er wieder seine Augen öffnet und ich meinen Blick blitzschnell abwende.
Chenle setzt sich ohne ein Wort zu sagen langsam auf und seufzt.
So wie er jetzt gerade aussieht, würde man nicht glauben, dass er auch zu Jenos Clique gehört. Für einen Schlägertyp sieht er im Moment viel zu unschuldig aus… 
Auch ich setze mich kurz darauf auf und reibe mir die Augen.
Ist das wirklich alles passiert??
Er hat mich..hier übernachten lassen??

Die Musik hat sich vermutlich selbst gestoppt, denn das Einzige, was man hören kann, sind die Autos, die draußen über die nassen Straßen rasen. Chenle sagt genauso wenig wie ich. Meiner Seits gibt es nichts zu sagen. Ich habe mich schon bedankt.
Innerlich warte ich wahrscheinlich darauf, dass Chenle mich dazu zwingt, sofort abzuhauen oder vielleicht sogar schlimmeres- was weiß ich… 

Ein Klopfen ertönt und kurz darauf öffnet sich die Tür.
"Chenle-", die Frau sieht mich kurz an und macht eine kurze Pause, bevor sie ihren Satz vervollständigt: "Ich mach euch Frühstück, also mach dich fertig, bevor du wieder zu spät kommst!"
Während ich so tue als wäre ich gar nicht da, steht Chenle auf und antwortet müde: "Schon gut, Mom."
Bevor die Tür ins Schloss fällt, meint seine Mutter noch ruhig: "Sag mir das nächste mal zumindest, wenn jemand herkommt!"
Sie wirkt ganz nett, schätze ich… 
Aber das braucht mich nicht zu interessieren, denn sogar Chenle meint: "Das hier war nur eine einmalige Sache. Und niemand wird hiervon erfahren, verstanden?"
Wie immer nicke ich nur.
Ich wusste er würde das sagen…
"Gut", erwidert er kalt und verlässt sein Zimmer.
Um ehrlich zu sein bin ich etwas überfordert… 
Soll ich ihm nachgehen?
Warten bis die Tür zufällt und dann erst gehen?
Einfach hier bleiben ?
Ich entscheide mich für ersteres und folge ihm in die Küche.

~

Mein Blick ist gesenkt und auf den Teller vor mir gerichtet. 
Spiegelei mit Speck- ..mal was neues.
Zuhause frühstücke ich eigentlich nur eine Scheibe Brot, wenn ich denn überhaupt etwas frühstücke. Meine Mom kocht am Morgen nicht.
Naja.. jetzt kocht sie ja gar nicht mehr für mich.
Chenle und ich reden nicht, während wir essen. Dadurch kann man gut das Zwitschern der Vögel hören.
Bei uns am Morgen kann man das nicht. Die Autos sind zu laut, denn wir wohnen direkt am Straßenrand. 
Chenle hat es hier gemütlich… 
Aber ob er bereut, dass ich hier bin?
Wahrscheinlich schon… 

"Wie heißt denn unser Einbrecher hier eigentlich?", ertönt die Frauenstimme von vorhin neben mir.
Etwas verlegen blicke ich zu ihr auf.
"Park Jisung.", stelle ich mich leise vor.
"Ist ja ein schöner Name."
Sie wirft mir ein sympathisches Lächeln zu.
Mit roten Wangen bedanke ich mich leise.
"Du bist echt peinlich, Mom.", meckert Chenle immer noch müde.
Ich finde nicht, dass sie peinlich ist, auch wenn meine Reaktion vielleicht so wirkt.
Es ist nur schwer für mich, mit Fremden zu reden… 
Ihr Kompliment hat mich sogar irgendwie aufgemuntert… Ich bekomme nicht oft Komplimente.
Wenn sie mich besser kennen würde, würde sie Chenle bestimmt anmeckern, warum er so jemanden wie mich hier sein lässt… 

Seine Mutter entfernt sich langsam von uns, sagt währenddessen aber noch: "Ich finde es gut, dass du dir neue Freunde suchst. Vielleicht bist du dann ja mal vernünftiger."
Chenles nächste Worte schicken mir einen Schauer über den Rücken:
"Er ist nicht mein Freund, nur jemand aus der Schule."
Meine Zähne beißen so sehr auf meine Zunge, dass man meinen könnte, sie würde gleich abfallen.
Meine Hand umklammert die Gabel und auch mein Atem setzt kurz aus.
Warum reagiere ich so…?
Ich wusste es ja. Ich wusste, ich bin nicht sein Freund, dennoch tut es weh. Warum…?
Es ist plötzlich wieder so still. Nicht einmal seine Mutter gibt eine Antwort. 

Wir lassen uns Zeit beim Essen, wie als wäre es egal, dass die Stunde in 30 Minuten beginnt. 
"Was wolltest du mich eigentlich fragen? Also am Spielplatz- du weißt schon."
Ich beiße meine Zähne zusammen, bis sie wehtun. 
Es braucht eine Weile, bis ich ihm endlich antworte: "Das hat sich schon erledigt…"
Ich wollte ihn fragen, ob er mich mag.
Die Antwort kann ich mir ja jetzt denken.
Nicht dass ich nicht schon davor wusste, dass er mit nein antworten würde… 
Seine einzige antwort ist ein misstrauisches "okay".

Ich würde jetzt gerne alleine sein.
Alleine ist es besser, als mit einer Person zu sein, welche dich als Einziges wie einen Menschen behandelt und trotzdem keine Scheu davor hat dir ins Gesicht zu sagen, dass sie dich hasst.
Etwas ungeduldig schiebe ich mir die Reste des Essens in den Mund, bevor ich aufstehe und Chenle nach dem Badezimmer frage, welcher mir dann den Weg erklärt.
Dort stehe ich dann vor dem beleuchteten Spiegel und starre mir selbst in die Augen.
Durch das gute Licht sieht man meine Augenringe noch deutlicher.
Wie ich hasse, was ich sehe… 
Ein Seil um meinen Hals wäre doch viel schöner, oder?
Meine Finger umklammern den Rand des Waschbeckens und meine Beine werden schwach.
Mir ist so schlecht… 
Ich habe schon ewig nicht mehr so viel gegessen- wollte ich auch eigentlich nicht.
Aber es war so gut- besser als das Essen zuhause und ich wollte nicht respektlos sein und es nicht aufessen.
Ich will- nein muss- mich übergeben. 
Nicht hier.. scheiße, nicht hier- nicht jetzt.
Sowas passiert mir doch sonst auch nie.. warum gerade jetzt??
Ich wage einen weiteren Blick in den Spiegel.
Meine Haut ist weißer als sonst.
Aus dem nichts fängt meine Lippe an zu zittern. Muss ich weinen? Ist es, weil mir schlecht ist? Oder vielleicht, weil es mir einfach alles zu viel wird?
Verzweifelt versuche ich mich zu beruhigen und das Verlangen mich zu übergeben zu unterdrücken… 

Nach einer Weile hört das Zittern endlich auf und ich entscheide mich wieder zurück zu Chenle zu gehen.
Niemand da.
Sein Platz ist leer und das Geschirr ist weg.
Wie lange ich wohl weg war?
Bestimmt nur ein paar Minuten… 
Ich höre Schritte bei mir vorbei gehen, als ich einfach wie eingefroren auf den leeren Stuhl starre. "Chenle meinte, er würde schon vorgehen. Er hatte es ziemlich eilig.", erklärt seine Mutter unwissend und begibt sich zum Abwasch.
Er hatte es nur so eilig, weil er nicht mit mir gesehen werden will… 
"Verstehe..", murmel ich zurückhaltend und füge dann noch schüchtern hinzu: "Danke für das Essen."
"Kein Problem." Sie schenkt mir erneut ein Lächeln, bevor ich mich verabschiede und die Wohnung verlasse.

Erst jetzt bemerke ich, dass ich ja gar nicht meine Schulsachen dabei habe.
Scheiße!
Sollte ich meine Sachen holen oder einfach so gehen? Ich werde ja sowieso zu spät kommen… 
Natürlich könnte ich auch einfach schwänzen… 
Das müsste ich dann halt irgendwie meinen Eltern erklären.

Mein Weg führt mich also nach draußen und als die leichten Regentropfen auf mich herabfallen, bemerke ich, dass ich Chenles Jacke in seinem Zimmer gelassen habe.
Noch einmal wird er mir sie bestimmt nicht geben…
Aber noch einmal zurückgehen wäre auch komisch.
Wut steigt in mir hoch.
Ich bin wütend auf mich selbst…
Da bekomme ich eine Sache, die mir Trost spendet und ich verliere sie einfach gleich wieder. So eine Scheiße…!

Es ist ein unwohles Gefühl nichts bei sich zu tragen… 
Keine Schultasche. Keine Jacke. Nicht einmal ein Handy in der Hosentasche.
Mein Körper fühlt sich so leicht an…
Ich mag dieses Gefühl nicht…
Es fühlt sich an, als wäre ich Luft- so wie mich jeder behandelt… 

𝑹𝒂𝒊𝒏𝒚 𝑫𝒂𝒚𝒔 / {𝐶ℎ𝑒𝑛𝑗𝑖}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt