*Update* Kapitel 4

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Das plötzliche Knurren des Wolfes zog meine Aufmerksam wieder auf ihn. Und genau das schien er auch gewollt zu haben, denn kaum durchbohrte sein Blick meinen, verstummte das tiefe Knurren.

Ich beobachtete ihn. Sah, wie ihm der Speichel aus dem Maul tropfte. Dieser Wolf hatte definitiv nichts Gutes im Sinn und ich war mir fast sicher, dass ich ganz oben auf seiner Speisekarte stand.

‚Nur keine plötzlichen Bewegungen', dachte ich. ‚Vielleicht geht er ja von alleine wieder zurück in den Wald und sucht sich ein anderes Opfer als Mittagessen.'

‚Pff... Das kannst du mal ganz schnell wieder vergessen. Er hat Hunger und du bist seit Tagen das Leckerste, das er vor die Linse bekommen hat', meinte eine kleine, fiese Stimme in meinem Kopf. Ich biss mir auf die Unterlippe, damit ich den Drang, einfach fortzulaufen, unterdrücken konnte. Doch manchmal entscheidet man sich dazu, etwas zu tun, obwohl es in dieser Situation absolut falsch ist. Also fing ich an, langsam rückwärts zu gehen. Als hätte der Wolf genau auf diesen Fehler meinerseits gewartet, kam er auf mich zugelaufen und ich schloss ängstlich die Augen.

Es würde also hier und jetzt enden, irgendwo im Wald auf dem Grundstück einer mir vollkommen fremden Familie. Na gut, nicht ganz fremd.

Ich würde die Hochzeit meines Bruders verpassen.

Ich würde mein Literaturstudium in den Wind schreiben können.

Und nicht zu vergessen würde ich gleich wahnsinnige Schmerzen haben.

Allerdings blieb der befürchtete Schmerz aus. Vielmehr spürte ich, wie mich Jemand zur Seite riss und unsanft mit mir in der Wiese landete.

„Du und deine verdammte Neugier!", fluchte eine vertraute Stimme.

„Yannick!", er lag neben mir und lächelte mich an.

„Ich bin ja so froh dich zu sehen", keuchte ich und umarmte ihn.

„Schon gut, schon gut. Autsch, vorsichtig", ich löste mich von ihm und sah drei kleinen Kratzer an seinem linken Oberarm. Sie waren zwar nicht tief, bluteten aber trotzdem.

„Du bist verletzt, Yannick!", meinte ich, doch er stand auf.

„Das ist wohl unser geringstes Problem. Wir sollten uns auf das da konzentrieren", er half mir auf und deutete dann in die Richtung des Wolfs.

Yannick stellte sich schützend vor mich. Sofort hatte ich das Gefühl eines Déja-vus, denn genau in dieser Pose hatte auch mein Vater vor so langer Zeit vor uns gestanden. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich in die Zeit von damals zurückversetzt.  Wie ich mit sechs Jahren das erste Mal einem kleinen Rudel Wölfe gegenüber gestanden und mich an meinen Bruder geklammert hatte. Wie er mich nach der Aufforderung unseres Vaters auf den Arm genommen hatte und von der Lichtung geflüchtet war. Allerdings war ich damals einfach zu klein gewesen um die Situation zu verstehen.

Doch in diesem Moment spürte ich das Adrenalin. Spürte den Drang, einfach vor dem Wolf wegzulaufen. Denn ich wusste, er würde uns töten.

Hatte mein Vater genau so gefühlt? Wäre er lieber mit uns von der Lichtung geflohen?

Doch mein Bruder unterbach meinen Gedankengang, bevor ich mir eine Antwort zurecht legen konnte.

„Nim, ich lenke den Wolf ab und du läufst den kleinen Weg da links entlang. Er führt dich aus dem Wald raus," erklärte er mir, doch ich schüttelte den Kopf.

„Ich werde nicht gehen. Hör auf wie Papa den Helden spielen zu wollen", erwiderte ich und stellte mich neben ihn, wobei ich seine Hand nahm. Gerade als er etwas darauf erwidern wollte, kamen zwei weitere Wölfe aus dem Wald.

Nachtwandler I - HexentanzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt