11. Jetzt weiß ich, wie sich Knete fühlt

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Der Riesenkrake zog mich immer näher zu seinem Mund. Ich wollte nicht jetzt schon sterben. Mein Leben war doch noch am Anfang. Mit einem letzten Kraftaufwand zappelte ich in dem Griff des Tentakels und versuchte mich zu befreien. Schmerzhaft bohrten sich die kleinen Klingen an den Saugnäpfen tiefer in mein Fleisch. Nicht tief genug, dass es tödlich war, aber tief genug, damit es weh tat.

„Yunus, tu doch was! Sonst fällt dir doch auch etwas ein!", rief Akira.

Sie funkelte den Kalmar wütend aus ihren Augen an. Ich bewunderte sie dafür, dass sie nicht vor Panik ohnmächtig wurde.

Sonst werden wir auch nicht von einem Riesenkalmar gefressen! Noch dazu einem anderen Seachanger!"

Das war also tatsächlich ein Seachanger. Grenzte es nicht an Kannibalismus, weil er uns fressen wollte? Schließlich waren wir zugleich auch alle Menschen.
Der Schnabel des Kalmars war nur noch einen Meter von mir entfernt. Panisch wollte ich mein Maul aufreißen, um zu schreien, aber der zweite Tentakel hielt es umklammert. Stattdessen schrie ich nur laut in Gedanken:

„Haaaaaalllllttt! Friss mich nicht, bitte!"

Akira, Yunus und der Riesenkalmar zuckten zusammen. Wenige Zentimeter vor dem zuschnappenden Schnabel hielt der Tentakel inne.

„Musstest du so laut brüllen?!"

Ärgerlich wurde ich vom Mund des Riesenkalmars weggezogen und vor sein Auge gehalten. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich mich mit den anderen Seachangern immer nur in Gedanken unterhalten hatte. Mein Geschrei hatten sie also alle drei mitbekommen. Wenigstens war ich nicht gefressen worden.

„Ich will doch nur meinen Job machen. Also zappel nicht, sondern lass dich gefälligst brav fressen!"

Das riesige Auge zog sich genervt zusammen, als ich widersprach:

„Ich will aber nicht gefressen werden! Was ist denn dein Job?"

„Sei einfach still", grummelte er (oder sie?).

Bevor ich seinem Mund wieder zu nahe kam, rief ich protestierend:

„Halt!"

„Du darfst uns nicht fressen!", mischte sich nun Akira ein.

„Und warum nicht?"

Das riesige Auge zuckte. Ich hoffte, er würde uns noch weiter zuhören und uns nicht einfach auffressen.

„Weil ... weil ..."

Akira rang nach Worten. Yunus kam ihr zu Hilfe:

„Weil wir doch alle auf derselben Seite sind, nicht wahr?"

„Glaubst du das wirklich?"

Als Mensch hätte der Seachanger diabolisch gegrinst. Nun glänzten seine Augen boshaft.

„Da ich euch sonst nicht anders zum Schweigen bringen kann, muss ich euch wohl oder übel zu Tode quetschen und erst dann essen."

Mit einem Mal zogen sich die Tentakel fester und fester um mich. Yunus und Akira schien es nicht besser zu ergehen. Noch tiefer als sowieso schon bohrten sich die klingenartigen Saugnäpfe in mein Fleisch.

„Warte! Ich -"

Mir wurde der Körper zusammengepresst. Ich konnte nicht einen klaren Gedanken fassen. Mit jedem weiteren Zudrücken schien es, als würde einer meiner Sinne versagen. Erst setzte meine Wahrnehmung der Dinge um mich herum aus. Ich konnte nicht mehr sagen, ob um mich zwei oder doch mehr Tentakel kreisten. Ich wusste nicht mehr, wo sich Akira und Yunus befanden. Dann verschwamm alles vor meinen Augen. Als der Riesenkalmar noch einmal zudrückte, spürte ich den Schmerz nicht. Nichts spürte ich. Plötzlich vernahm ich einen lauten Klickton, der aber auch meiner Fantasie entsprungen sein könnte. Meine Ohren klingelten. Den Geruch meines Blutes versuchte ich auszublenden, aber er stach mir weiterhin in die Nase. Wieder hörte ich das Klicken. Hatte ich bereits Halluzinationen?

„He, was soll -"

Das Gefühl der Enge verschwand und ich atmete erleichtert auf. War ich tot und hatte der Druck deswegen nachgelassen oder hatte mich der Riesenkalmar tatsächlich losgelassen? Meine Sicht klarte auf. Vor mir schwammen Akira und Yunus, die genauso verwirrt aussahen, wie ich mich fühlte. Als sie mich sahen, kamen sie aufgeregt auf mich zu, blieben dann aber abrupt stehen. Mit aufgerissenen Augen sahen sie auf etwas, das sich hinter mir befand. In Erwartung, irgendein gigantisches Tiefseemonster zu sehen, drehte ich mich um. Was ich da erblickte, überraschte mich sehr. Ich schaute ins Angesicht eines bestimmt zwanzig Meter langen Pottwals. Wo war der Kalmar?

„Entschuldigt bitte. Ich hoffe Neo hat euch nicht allzu viele Probleme beschert.

„Wer?", fragte ich.

„Der Riesenkalmar. Er ist geflohen und wird vermutlich nicht so schnell wiederkommen."

Das war eine gute Nachricht.

„Und wer bist du?"

Akira beäugte den Pottwal misstrauisch, als erwarte sie, er würde uns alle mit einem Happs verschlingen. Was er theoretisch schaffen könnte. Uns würde niemand zu Hilfe eilen oder überhaupt beschützen können. Als der Wal antwortete, zuckte ich vor Schreck zusammen.

„Verzeiht, dass ich mich nicht schon früher vorgestellt habe. Mein Name ist William, aber ihr könnt mich gerne Will nennen."

Will sah eigentlich ganz nett aus, weshalb ich glaubte, dass er uns nicht fressen oder töten wollte. Dennoch, der Schein kann trügen. Stille machte sich breit, keiner wusste, was er sagen sollte.

„Ähm ... Vielen Dank für deine Hilfe, Will", sagte Yunus schließlich.

„Gern geschehen. Ich wollte sowieso nach Fotein."

Fotein? Hieß so die Stadt? Will setzte sich in Bewegung und schwamm auf die Stadt zu. Ich bezweifelte, dass er in den Straßen schwimmen konnte. Er war einfach zu groß. Akira, Yunus und ich, beeilten uns, ihn einzuholen. Glücklicherweise blieb der Pottwal über der Stadt und versuchte nicht durch die Straßen zu schwimmen. Als es plötzlich um sie herum dunkel wurde, schauten die Seachanger überrascht auf. Aufgeregt deuteten ein paar auf ihn, aber dem Rest schien es relativ egal zu sein, denn sie gingen ihren Tätigkeiten nach und sahen nur ab und zu nach oben. Zielstrebig steuerte Will auf den Palast zu, während sein Schatten die Straßen verdunkelte.

„Also, äh, Will... Ich bin mir nicht so sicher, ob es wirklich eine gute Idee ist, zum Palast zu schwimmen..."

„Sie werden uns angreifen, wenn wir nicht umkehren", sprang Akira Yunus zur Seite.

„Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen."

Unaufhaltsam näherte sich Will dem Eingang, der so groß war, dass bestimmt zwei Pottwale nebeneinander hindurchschwimmen konnten. Die beiden Tigerhaie, die ihn bewachten, hatten uns schon längst bemerkt, machten aber keine Anstalten, uns aufzuhalten. Sie schienen uns regelrecht zu erwarten.

„Wir sollten umkehren", drängte Yunus.

Doch für eine Rückkehr war es bereits zu spät. In diesem Moment erreichten wir den Palast. Die Eingangstüren schwangen auf und ein kleiner rot-weiß gestreifter Fisch kam herausgeschwommen. Auf dem Rücken hatte er Stacheln und seine Brustflossen waren halb so groß wie sein ganzer Körper. Instinktiv wich ich zurück, als er näher kam. Es war ein Feuerfisch. Sein Gift war ziemlich schmerzhaft, trotzdem fraßen ihn Raubfische.

„Will, wir haben dich schon erwartet. Ihr drei kommt am besten auch mit."

Hatten wir irgendetwas angestellt? Würden wir bestraft werden? Voller Unbehagen folgten wir dem Feuerfisch in den Palast, Will schwamm hinterher. Mit einem leisen Knall schlossen sich die Türen hinter uns. Nun waren wir also im Inneren dieses gigantischen Gebäudes und würden hoffentlich etwas erfahren. Wenn mein Eindruck von Fotein mich nicht täuschte, dürfte uns nichts passieren, schließlich waren wir alle Seachanger. Und sie hatten eigentlich ziemlich freundlich gewirkt. Hoffte ich zumindest.

Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt