12. Natürlich will ich jemand sein, den alle tot sehen wollen

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Wir schwammen einen breiten, langen Flur entlang. Als er eine Biegung machte, hatte Will keine Probleme um die Kurve zu kommen. Nach etwa fünf Minuten erreichten wir eine riesige Flügeltür. Wie von Geisterhand öffnete sie sich und wir schwammen in den Saal. Dieser war gigantisch und hatte auf einer Seite bodentiefe Fenster, durch die man hinab nach Fotein blicken konnte. Auf der anderen Seite hingen kleine Lampen, die wegen der fluoreszierenden Steine in ihnen leuchteten.

In dem Raum an sich gab es nicht viel. Am anderen Ende befand sich eine kleine Tür mit einem Griff. Wie sollte jemand, der Flossen hatte, sie aufbekommen?

Der Feuerfisch führte uns auf die andere Seite, wo sich ein Tisch aus Stein befand, der ein Drittel der Fläche des Saales einnahm.  Verblüfft betrachtete ich ihn eingehender. Die Tischplatte war zu einer Karte umfunktioniert worden. Sie zeigte die ganze Stadt Callor und zum Teil das Meer - auch unter der Wasseroberfläche. Man konnte auch ziemlich gut den Wald erkennen, sowie Orte in ihm, die mir völlig unbekannt waren. Oberas? Arius? Waren das Städte? Oder Dörfer?

„Hallo, William. Schön, dass du kommen konntest", ertönte eine mir allzu bekannte Stimme vor mir.

Aus der hinteren linken Ecke, die im Schatten lag, kam ein Hai geschwommen. Es war Rune. Er wirkte ein wenig überrascht, mich hier anzutreffen.

„Willkommen, Serafina, im Palast von Fotein. Oh, und Akira und Yunus sind auch da."

Seine Stimme klang nicht verärgert, sondern eher erleichtert.

„Leider konnte ich nicht früher kommen, weil ich noch drei Leben retten musste", entschuldigte sich Will.

„Ich hab es schon erfahren."

Besorgt wandte sich Rune mir zu.

„Ist alles in Ordnung?"

„Äh, ja. Mir geht's gut", antwortete ich.

Mit einem Mal verdunkelte sich seine Miene. Rune schwamm auf der anderen Seite des Tisches auf und ab. Was hatte er denn? Es war doch nichts passiert.

„Ich hätte nicht erwartet, Spione so nah an Fotein anzutreffen. Dass sie sich das überhaupt trauen!"

Will räusperte sich - jedenfalls glaubte ich, dass das blubbernde Geräusch ein Räuspern war.

„Genau deshalb bin ich gekommen. Viele Forestchanger haben uns angegriffen."

Wie funktionierte das bitte? Forestchanger waren doch Landbewohner, wie also konnten sie Meerestiere angreifen, die kilometerweit von der Küste entfernt und mehrere Meter tief unter Wasser waren?

„Was ist genau passiert?", fragte Rune ernst.

„Taron und ich wollten uns gerade auf den Weg nach Hause machen, als sie kamen. Dutzende Waldtiere fielen über uns her. Sie kamen wie aus dem Nichts! Es waren Forestchanger, ich hab es gespürt. Wir waren zum Glück in der Nähe des Strandes gewesen, sodass wir versuchten ins Meer zu fliehen. Ich schaffte es, Taron aber..."

Will unterbrach sich. Seine Augen waren voller Trauer und Sorge. Schließlich fuhr er fort:

„Er wurde getötet."

Es herrschte eine Weile völlige Stille. Getötet... Dieses Wort fühlte sich so falsch an. Wie konnte man einfach einen anderen Menschen töten, der Familie und Freunde hatte? Ein Leben hatte? Mir fiel wieder der Riesenkalmar, Neo, ein. Er war ein Seachanger und trotzdem hatte er versucht uns zu töten. Ich hatte mir diese ganze Ich-kann-mich-in-ein-Tier-verwandeln-Sache anders vorgestellt. Niemals hätte ich geglaubt, dass sie sich untereinander umbrachten.

„Damit ist klar, was sie wollen", sagte Rune düster.

„Krieg."

Ich starrte ihn entsetzt an. Was? Das durfte doch nicht wahr sein! Es war fast, als könnten Menschen ohne Krieg nicht existieren. Dabei hatte hier alles etwas fortschrittlicher gewirkt, hier, wo Raubfische friedlich mit ihrer „Beute" zusammen lebten.

„WAS?!", rief Akira aus.

„Die Forestchanger wollen Krieg mit uns Seachangern", wiederholte Rune.

„Aber warum?", wollte ich wissen.

Der Schwarzhai seufzte.

„Ich will es dir erklären."

Ich schwamm näher an Rune heran, weil ich vergaß, dass ich seine Worte auch von weiter weg verstehen konnte, da wir uns ja alle in Gedanken verständigten.

„Es ist schon ein paar Jahre her. Vor 21 Jahren lebten wir gemeinsam: Seachanger, Forestchanger und Windchanger. Wir unterstützten uns gegenseitig in vielen Situationen. Es gab auch einen sogenannten Trichanger. Ein Mensch, der sich in ein Wesen des Meeres, des Landes und der Luft verwandeln konnte. Das kam, als sich ein Sea- und ein Windchanger ineinander verliebten und ein Kind bekamen, welches widerum ein Kind mit einem Forestchanger bekam. Es war einmalig, dass das Kind ein Trichanger war. Diese Gabe ist sehr selten und wird von einem der Großeltern zum Enkel weitervererbt. Der Trichanger, der vor 21 Jahren lebte, war ein großer Mann, der die Gemeinschaft der drei verschiedenen Tierwandler zusammenhielt. Leider wurde er umgebracht. Von wem genau, weiß niemand, aber wir glauben, es waren die Forestchanger. Viele von ihnen waren eifersüchtig auf diese besondere Gabe und wollten nicht, dass jemand existierte, der besonderer war als sie selbst. So zerbrach der Zusammenhalt und wir begangen einander zu hassen."

„Das ist ja schrecklich!", sagte ich bestürzt.

Rune nickte nur leicht. Akira hatte ihren Kopf gesenkt und Yunus wirkte blass - oder vielleicht war das ja auch nur seine natürliche Färbung.

„Was ich dir sagen will, ist, dass dieser Trichanger dein Großvater war."

„Bitte WAS?!"

 Ich starrte Rune fassungslos an. Mein Großvater war ein der Trichanger gewesen? Bedeutete das nicht...

„Und da du seine Enkelin bist, bedeutet das, dass auch du diese Gabe besitzt."

Ich wollte mich setzen. Oder einfach die Augen schließen. Langsam übermannte mich die Erschöpfung und mir wurde etwas schwindelig.

„Deine Mutter tat gut daran, dir nichts von dem Ganzen zu erzählen. So konnte sie dich am besten schützen. Doch jetzt, wo du es selbst erfahren hast, musst du auf dich Acht geben. Viele vermuten, dass du eine Trichanger bist und haben es deswegen auf dich abgesehen", sagte Rune.

Das ist ja voll cool!", mischte sich Akira ein.

Ein nervöses Lachen bahnte sich seinen Weg aus meiner Kehle.

„Ha, ha, ja. Es ist wirklich voll cool, wenn alle dich umbringen wollen."

„Na ja. Wenn du es so sagst, ist es natürlich nicht gut", gab Akira zu.

„Aber könnte es nicht auch mein Bruder sein?"

„Bisher wurde die Gabe bei mehreren Geschwistern immer auf den Ältesten vererbt", erklärte Rune

Er drehte sich zu dem Feuerfisch.

„Sebastian, wie sieht die Lage an der Oberfläche aus?"

„Schlecht", antwortete Sebastian. „Sie haben uns zurückgedrängt. Diese ehrenlosen Hunde, machen keinen Halt vor Toten. Wenn sie könnten, würden sie uns alle auslöschen."

Das wollte ich mir eigentlich nicht anhören. Ich wollte keine Trichanger sein, auch wenn es ziemlich aufregend war, dass ich mich in drei verschiedene Tiere verwandeln konnte. Dennoch wäre ich lieber eine normale Seachanger, da mich so viele umbringen wollten. Was brachte es den Menschen, wenn ich tot war?

„Wir reden später noch. Serafina, kann ich dich einmal sprechen? Allein?"

Rune sah mich abwartend an. Schnell bejahte ich seine Frage und folgte ihm zu der kleinen Tür am hintersten Ende. Was wollte er mir sagen, was die anderen nicht hören sollten?

Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt