Nervös strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Warum hatte ich mich noch mal auf dieses Treffen eingelassen? Und warum war ich überhaupt gekommen? Ich hätte auch einfach zu Hause bleiben können. Aber irgendetwas hatte mich daran gehindert. Vielleicht wollte ich einfach nur das Meer sehen. Vielleicht wollte ich aber auch den vorwurfsvollen Blicken meiner Eltern entfliehen. Trotz unseres gestrigen Gesprächs gaben sie immer noch mir die Schuld, auch wenn sie versuchten, es nicht zu zeigen.
Ich sah aufs Meer hinaus und betrachtete die Wellen. Ein kleines Segelboot schaukelte auf ihnen. Es wirkte von hier fast wie ein Spielzeug. Abgesehen vom Kreischen der Möwen und vom Rauschen der Wellen war es vollkommen still. Der salzige Geruch des Wassers stieg mir in die Nase. Jetzt war ich alleine am Strand, die wenigen Spaziergänger mal abgesehen. Die waren aber ein paar Kilometer entfernt. Im Sommer würde es hier nur so von Menschen wimmeln.
Ich seufzte und beobachtete eine Möwe. Sie stürzte sich herab ins Wasser und erhob sich kurz darauf wieder, einen zappelnden Fisch im Schnabel.„Darf ich mich zu dir stellen?"
Ohne meine Antwort abzuwarten, stellte Silvan sich neben mich, woraufhin ich mich versteifte. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören.
„Wartest du schon lange?", fragte er.
Seine Augen waren genauso durchdringend wie gestern. Unbehaglich verlagerte ich mein Gewicht auf das linke Bein.
„Ich... äh, nein."
„Dann ist ja gut."
Silvan lächelte mich an. Ich sah zur Seite und fixierte eine kleine Muschel am Boden.
„Komm, ich will dir etwas zeigen", sagte er und ergriff meine Hand.
Überrascht sah ich ihn an.
„Ich dachte du wärst neu hier."
„Ja, schon. Deshalb habe ich gestern nach der Schule auch die Stadt erkundet", meinte Silvan und legte den Kopf schief.
„Ich bin sicher, das, was du mir zeigen willst, kenne ich schon. Schließlich wohne ich hier seit sechzehn Jahren."
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du den Ort nicht kennst. Also, kommst du?"
Ich nickte stumm und ließ mich von ihm mitziehen. Wir liefen etwa zehn Minuten den Strand entlang, bis wir zu einer Sackgasse kamen. Vor uns ragte eine rankenüberwachsene Felswand auf. Drumherum konnte man nicht schwimmen, da sich im Wasser verteilt viele Felsen befanden, von denen nur wenige herausragten.
Entschlossen ging Silvan weiter auf die Felswand zu.„Hier ist nichts, Silvan. Auch auf der anderen Seite kommt man nicht durch. Lass uns wieder zurück gehen. Dort ist es flacher", sagte ich.
„Wart's ab", waren seine schlichten Worte.
Silvan ließ meine Hand los und tastete den Felsen ab. Er nickte, als hätte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Ich hatte mit meiner These recht gehabt. Dieser Typ war verrückt.
„Komm."
Stirnrunzelnd stellte ich mich zu ihm und er nahm wieder meine Hand in seine. Dann drückte er die Ranken beiseite und offenbarte einen Tunnel, an dessen Ende die Sonne schien. Mir klappte der Mund auf. Wie war das möglich? Ich war hier so häufig gewesen und hatte nicht einmal einen Hinweis zu diesem Geheimgang gefunden.
„Woher...? Wie...?"
Silvan grinste und führte mich hindurch. Im Tunnel war es kühl. Es roch nach Feuchtigkeit und Salz.
Wir erreichten das Ende und drückten uns unter der niedrigen Öffnung durch. Was mich dort erwartete war einfach atemberaubend. Von zwei hohen Felswänden umringt befand sich eine kleine Bucht, die auf der Seite zum Meer hin von vereinzelten, aus dem Wasser ragenden Steinen umschlossen wurde. Der Strand war zwar schmal – es waren drei Meter von dem Felsen bis zum Wasser –, aber dort standen zwei Bäume, die ich nicht identifizieren konnte. Vögel saßen auf ihren Ästen und zwitscherten fröhlich. Oder ärgerlich, weil wir in ihr Versteck eingedrungen waren. Ich wusste es nicht.„Wie hast du diesen Ort gefunden? Bestimmt nicht zufällig."
„Du hast recht, es war nicht zufällig."
Silvan unterbrach sich und genoss es, mir die Antwort zu verwehren.
„Komm, sag schon", forderte ich ihn auf.
„Eine Maus hat es mir verraten. Sie zeigte mir außerdem den Gang", behauptete er.
Ich zog eine Augenbraue hoch. Das konnte nicht sein Ernst sein. So blöd war ich nicht.
„Und wie bist du wirklich auf diesen Ort gestoßen?"
Silvan sah mich überrascht an.
„Die Maus hat ihn mir gezeigt. Wirklich."
Er wirkte ehrlich, aber ich traute dem nicht so ganz. Tiere konnten doch nicht sprechen. Ich würde die Wahrheit noch erfahren. Da war ich sicher.
Ich setzte mich in den Sand und sah hinaus aufs Meer. Es glänzte im Licht der mittlerweile untergehenden Sonne. Plötzlich legte sich ein Arm um meine Schultern. Misstrauisch betrachtete ich Silvan, der sich neben mich gesetzt hatte. Sein Duft nach Kiefernadeln und Waldluft umhüllte mich.
Was wollte er damit erreichen? Ich sprach meinen Gedanken laut aus:„Was soll das werden?"
„Was soll was werden?"
Ich funkelte ihn an, woraufhin seine Augen nur belustigt zu mir herunter schauten. Nachdrücklich schüttelte ich seinen Arm ab. Gerade mal zwei Tage kannten wir uns. Was beabsichtigte er? Und wieso?
Ein Klingeln unterbrach meine Gedankengänge.„Entschuldige. Das ist mein Handy", sagte Silvan.
Er stand auf und lief ein paar Schritte zur Seite. Dann erst ging er ran:
„Hallo?"
Die Stimme aus dem Handy war gedämpft. Ich verstand nur wenige Worte.
„... du?... sofort ... befürchten ... Angriff ... Seachanger ... Vorbereitungen treffen... Beeil dich!"
Die letzten Worte wurden geschrien, sodass ich sie gut verstehen konnte. Mit ernster Miene antwortete Silvan:
„Ich komme. Fangt am besten schon an."
Er legte auf und drehte sich wieder zu mir. Ein entschuldigendes Lächeln lag auf seinen Lippen.
„Wer war das?"
Neugierig sah ich auf sein Handy, das bereits in seiner Hosentasche verschwunden war.
„Ein Freund", wich er aus. „Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns Montag in der Schule."
Bevor ich etwas erwidern konnte, umarmte Silvan mich und verschwand durch den Tunnel. Ich starrte ihm hinterher. Was war das denn gewesen? Wer hatte ihn angerufen? Ein Freund sicher nicht, so wie sich der Typ auf der anderen Seite angehört hatte. Er hatte es aber auch gesagt. Seachanger. Was hatte Silvan Victory damit zu tun? Er verbarg etwas. Und was für einen Angriff befürchteten sie?
Nachdenklich lief ich auf und ab.„Meinst du sie ist es?", fragte eine hohe Stimme hinter mir.
Erschrocken fuhr ich herum, aber dort war niemand außer zwei Blaumeisen. Ich drehte mich noch ein paar Mal um meine eigene Achse, doch ich sah niemanden.
„Sprich nicht so laut! Sie kann dich hören", sagte eine andere, genauso hohe Stimme.
Egal, wie häufig ich mich drehte und wendete, hier war niemand. Nur diese beiden Vögel. Ob sie diejenigen waren, die sprachen? Ich schüttelte den Kopf. Sicher nicht.
„Lass uns verschwinden. Bevor du dich noch verplapperst..."
Die zwei Blaumeisen flogen davon. Jetzt war ich wirklich allein. Es wurde immer merkwürdiger. So schnell ich konnte, verließ ich die Bucht und machte mich auf den Weg nach Hause. Dabei kreisten meine Gedanken wieder um Silvan und sein Telefonat. Was er wohl mit den Seachanger zu tun hatte?
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Ruf des Meeres
FantasyBand 1 der Trilogie Nach einem Hai-Angriff auf ihren Bruder kümmert sich Serafina wo sie kann um ihn. Eines Morgens erzählt er seltsame Dinge. Da glaubt sie, er würde verrückt werden. Als auch noch ein neuer Schüler in ihre Klasse kommt und behaupt...