14. Warum tun Eltern das Falsche, um ihre Kinder zu schützen?

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Meine Mutter wurde blass.

„Das darf nicht wahr sein", flüsterte sie. „Serafina, komm sofort ins Haus!"

„Ich komm ja schon", murmelte ich und drehte mich noch zu Rune um.

Unbeholfen winkte ich ihm zum Abschied und verschwand dann im Haus. Er machte den Mund auf und wollte etwas sagen, aber Ma knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie Rune sich, traurig den Kopf schüttelnd, abwandte.

„War das wirklich nötig gewesen?", fragte ich meine Mutter.

Sie antwortete nicht, weshalb ich mich stirnrunzelnd zu ihr umdrehte.

„Ma...?"

Als ich meine Mutter sah, stiegen Schuldgefühle in mir hoch, obwohl ich nicht einmal wusste, warum genau. Nachdem meine Mutter die Tür zugemacht hatte, war sie an dieser zu Boden gesunken. Das Gesicht in den Händen verborgen weinte sie lautlos. Besorgt hockte ich mich neben sie.

„Alles in Ordnung?"

Ich wusste, dass nichts in Ordnung war, aber momentan hatte ich keine Ahnung, was ich sagen sollte.

„Nein", schluchzte sie und hob den Kopf.

Aus geröteten Augen schaute sie mich an.

„Warum? Warum war er da?"

„Ich...", begann ich.

Ma schluchzte auf.

„Wir hätten damals ins Ausland gehen sollen. Wieso habe ich nicht auf Henry gehört?"

Verwirrt sah ich meine Mutter an und wartete darauf, dass sie fortfuhr.

„Ich hatte doch bloß gewollt, dass du in einer vertrauten Umgebung aufwächst."

„Wie meinst du das?", wollte ich wissen.

Meine Mutter seufzte tief. Dann rappelte sie sich auf und sagte gefasster:

„Komm. Ich werde dir alles in Ruhe erklären."

Ich folgte ihr ins Wohnzimmer, wo wir uns auf das Sofa setzten. Doch im nächsten Moment stand Ma wieder auf und verschwand in der Küche. Sie zögerte so nur alles unnötig hinaus.

Wenige Minuten später setzte sie sich zu mir zurück und stellte zwei dampfende Tassen Tee vor uns ab. Bevor meine Mutter zum Sprechen ansetzte, atmete sie einmal tief ein und aus.

„Ich denke, du weißt über die Seachanger und Fotein Bescheid?"

Ich nickte.

„Gut."

Sie zögerte kurz, überwand sich dann aber endlich.

„Wie du wahrscheinlich bereits weißt, bin ich eine Seachanger. Ich kann mich in einen Weißen Hai verwandeln. Früher habe ich fast ausschließlich im Wasser gelebt. Nur manchmal kam ich an Land, um mich mit Freunden aus den anderen beiden Reichen auszutauschen. Du weißt von den drei Reichen? Ihre Hauptstädte sind Fotein, die Stadt im Meer, Oberas, die Stadt der Lüfte, und Arius, die Stadt im Wald."

Das war mir neu. Hatten nicht Oberas und Arius diese Städte auf der Steintisch-Karte im Palastsaal geheißen? War das eine Karte von den drei Reichen gewesen?

„Eines Tages, als ich gerade meine Freundin in Arius besuchen wollte, traf ich deinen Vater", ein verträumter Ausdruck erschien auf Mas Gesicht. „Er war sehr charmant und ich verliebte mich in ihn. Wir -"

„Bitte keine Details dazu", unterbrach ich sie schnell.

Sie grinste nur, aber beließ es zum Glück dabei. Ich wollte keine Details von ihr hören, wie sie und mein Vater zusammen ... eine Nacht verbrachten. Oder mehrere.

„Jedenfalls war ich schwanger, was eigentlich nicht sein durfte. Es sollte nur ein Partner unter den eigenen Reichen gewählt werden, weil niemand einen weiteren Trichanger wollte. Sie hatten Angst vor seiner Macht. Und dann hatte ich mich noch dazu in einen Menschen verliebt, was die Tierwandler nicht gern sahen. Also versuchte ich, meine Schwangerschaft zu verbergen, aber Rune fand es heraus. Du musst wissen, wir waren gute Freunde, weshalb er es für sich behielt. Als du dann auf die Welt kamst, wollte ich das Beste für dich. Ich hatte gehofft, die Fähigkeiten deines Großvaters wären nicht auf dich übergegangen, aber als du sechs Monate alt warst, geschah es. Du verwandeltest dich in alle drei Tiere."

Meine Mutter machte eine kurze Pause und nippte an ihrem Tee. Ich dagegen hatte meinen noch gar nicht angerührt. Mittlerweile war er bestimmt nur noch lauwarm, aber es war mir egal.

„Ich floh, weil ich wusste, dass du in Gefahr warst. Ich versuchte alles, um dich zu schützen, aber ich wollte, dass du in einer vertrauten Umgebung - am Meer - aufwächst. Henry und ich zogen eine Stadt weiter und ich versuchte, mein altes Leben zu verdrängen. Doch jedes Mal, wenn ich dich ansah, wusste ich, dass wir nicht sicher waren. Dass du nicht sicher warst. Dein Anblick erinnerte mich an das, was ich aufgegeben hatte, um dich zu schützen. Es tut mir Leid, wenn es dir manchmal so vorkam, als würde ich dich nicht lieben. Denn das stimmt nicht. Ich liebe dich so sehr, dass ich alles aufgegeben habe, um dich zu schützen."

Sie lächelte mich an und wollte mich in den Arm nehmen, aber ich wich zurück.

„Du wusstest, dass ich mich verwandeln konnte. Von Anfang an. Und du hast es mir nicht gesagt."

Unbändige Wut machte sich in mir breit. Ich war wütend auf alles und jeden. Auf meine Mutter, weil sie nichts gesagt hatte. Auf Rune, weil er sie nicht aufgehalten hatte. Auf diesen ganzen Mist mit der Trichanger- und der Du-bist-die-Einzige-die-die-Reiche-wieder-vereinen-kann-Sache.

„Ich weiß, und das tut mir jetzt Leid."

„Du wusstest von diesem Ruf. Dem Ziehen, wenn das Meer einen zu sich holt."

„Als Ryan diesen Unfall hatte, dachte ich, ihr beide würdet euch vom Meer fernhalten. Ich konnte doch nicht wissen -"

„Ich wäre zwei Mal fast ertrunken, weil du nichts gesagt hast!", schrie ich.

Ruckartig stand ich auf und drehte mich weg.

„Serafina. Hätte ich geahnt -"

„Was hätte das gebracht?! Du hättest es mir doch sowieso nicht gesagt, nicht wahr?! Weißt du eigentlich, wie sehr das schmerzt? Von der eigenen Mutter so hintergangen worden zu sein?"

Ich fuhr herum und starrte meine Mutter an, die mich mit einem leidenden Blick ansah. Sie stand auf und kam auf mich zu, doch ich ließ sie mich gar nicht erst erreichen. Abrupt drehte ich mich um und rannte zu der Haustür.

„Serafina! Warte!"

Doch ich hörte nicht auf sie, sondern riss die Tür auf und stürmte ins Freie. Ich rannte einfach los. Vorbei an einem verdutzt aussehendem Ryan und meinem stirnrunzelnden Vater direkt in die gerade einsetzende Dunkelheit. Ich blieb nicht stehen und ignorierte das klägliche Rufen meiner Mutter. In diesem Moment wollte ich nicht bei ihr sein, auch wenn ich tief in mir wusste, dass ich sie zu Unrecht beschuldigte. Die Wut machte mich rasend.

„Wieso? Wieso hast du es mir nicht einfach gesagt, Ma?", flüsterte ich erstickt.

Warme Tränen rannen meine Wangen hinunter und tropften zu Boden. Meine Sicht verschwamm, dennoch lief ich weiter. Ich wusste nicht, wohin, sondern ließ mich einfach von meinen Beinen tragen. Als ich schließlich zum Stehen kam, stand ich vor dem Geheimgang im Felsen. Mit schnellen Schritten ging ich hindurch und ließ mich in der Bucht in den Sand sinken. Schluchzer, die meinen ganzen Körper schüttelten, brachen aus mir hervor.

Vielleicht weinte ich, weil meine Mutter mir nichts gesagt hatte. Vielleicht aber auch, weil ich nicht fassen konnte, wie sehr sie mich lieben musste, dass sie ihr altes Leben aufgegeben hatte, auch wenn sie es nie gezeigt hatte. Vielleicht weinte ich aber auch nur, um mit dem ganzen Druck fertig zu werden. Ich sollte drei verfeindete Reiche vereinen, obwohl ich vor Kurzem nicht einmal von ihrer Existenz gewusst hatte.

Vermutlich lag es an allem zugleich. Ich vergrub mein Gesicht in meinen angezogenen Knien und weinte hemmungslos los. Deswegen bemerkte ich auch nicht die Schritte, die sich mir näherten. Erst als eine Stimme vor mir ertönte, wusste ich, dass er da war.

„Serafina, was ist denn passiert?", fragte Silvan Victory besorgt.

Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt