¹⁹ / sᴛɪʟʟᴇ ᴅᴜɴᴋᴇʟʜᴇɪᴛ

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𝙹𝚊𝚗𝚜 𝚂𝚒𝚌𝚑𝚝

Ein paar Tage sind seit – ja, was war das eigentlich genau? – vergangen. Hätten wir uns geküsst, wenn Gisela nichts gesagt hätte? Alleine der Gedanken daran verursacht in mir schon ein schneller schlagendes Herz.
Seit einiger Zeit verbringen wir fast Tag und Nacht miteinander. Ich weiß nicht, was Tim mit mir macht, aber seitdem er völlig aufgelöst vor meiner Tür stand, sind meine Panikattacken plötzlich verschwunden, als hätte er eine besondere Gabe an sich.
Ich hatte auch das Gefühl, Tim ginge es allmählich besser und hat fast mit Emilia abgeschlossen. Aber leider eben nur fast.

Letzte Nacht bin ich kurz aufgewacht und habe gehört, wie Tim leise geweint hat.
Ob er es öfter tut, wenn ich bereits schlafe? Ich will gar nicht dran denken.
Auch als er heute morgen aufgestanden ist, was viel, viel später als sonst war, war er wie weggetreten. Hat kaum gesprochen, gelacht, nicht einmal über Gisela.
Darauf angesprochen habe ich ihn allerdings noch nicht, wenn er es mir erzählen will, wird er es tun, wenn er bereit dazu ist.

Ich will Tim auch ernsthaft weiterhin helfen, aber mit dieser neuen Art unserer Beziehung zueinander komme ich nicht klar. Sie ist viel inniger, wir berühren uns viel öfter als sonst, ich bin ständig aufgeregt, wenn er in meiner Nähe ist, wir tauschen viele intensive Blicke miteinander aus, nur, um dann wieder schüchtern wegzuschauen.
Und das macht mich alles unglaublich fertig.
Aber es ist auch alles unglaublich schön.

Gerade sitzen wir gemeinsam fernsehschauend auf meinem Sofa, Tims Kopf liegt auf meiner Schulter, sein Körper eng an meinem. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob er überhaupt etwas von der Serie mitbekommt oder gar schläft. Schon den ganzen Tag ist er so abwesend. Irgendwas muss ihn gewaltig bedrücken, sonst ist er nie so. Ich habe wirklich gedacht, ihm würde es besser gehen. Aber da habe ich mich wohl geirrt.
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Am Abend habe ich es tatsächlich geschafft, ihn dazu zu überreden, kurz spazieren zu gehen. Ein Wunder, dass er irgendwann doch einverstanden war, denn am Anfang hat er sich mit allem gewehrt, was ging.

Es wird ihm guttun, an die frische Luft zu kommen. Dass er weiterhin kein Wort sagt, hat mir jedoch keine gesagt.

Gemeinsam gehen wir nun schweigend nebeneinander in die Dunkelheit.

Plötzlich spüre ich das Verlangen, seine Hand zu nehmen. Schon einladend schwingt sie neben meiner hin und her.
Sollte ich? Warum kann es nicht so einfach sein wie vor ein paar Tagen im Park, da hab ich nicht lange nachgedacht, sondern einfach gemacht.

„Wollen wir heute noch streamen?“, fragt Tim auf einmal.

Verwundert bleibe ich stehen und sehe ich ihn an. „Meinst du, das ist eine gute Idee? Du siehst nämlich ganz schön scheiße aus. Heute war nicht einer deiner besten Tage.“

„Ja, ich bin mir sogar sehr sicher. Ich denke, wir sind unserer Community das schuldig. Da können wir auch besser erklären, was passiert ist, warum keine Videos kamen, praktisch gar kein Lebenszeichen von uns.
Außerdem hab ich es einfach nicht auf die Reihe bekommen, das letzte Video zu schneiden. Ich bin immer noch nicht fertig.“

Nicht begeistert nicke ich. Ich glaub nicht, dass ein Livestream in seinem jetzigen Gemütszustand eine gute Idee wäre.
„Wollen wir ihnen denn die Wahrheit sagen? Also die Ganze?“

Tim stockt kurz. „Ist das in Ordnung für dich?“

Ich zucke mit den Schultern. „Denke schon. Ja, dann kommt alles raus, alles.“

„Und ich kann Quentin fragen, ob er morgen mit uns ein Video drehen will!“, schlägt er erfreut vor.

Was ist denn jetzt los? Warum ist er auf einmal so motiviert? Und so redefreudig? So viel hat er im ganzen vergänglichen Verlauf des Tages nicht gesagt.

„Okay", erwidere ich verunsichert.

„Und jetzt komm, wir fahren zu mir", sagt er, während er mich an der Hand nimmt und umdreht, um wieder zu meiner Wohnung zu kommen.
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„Was geht Freunde? Seid ihr gut drauf?“, ruft Tim gut gelaunt in die Kamera. Man könnte fast denken, er wäre wirklich so glücklich.
„Wir sind euch wohl einige Erklärungen schuldig, was?“

Schlussendlich haben wir ihnen doch nichts von unserem Streit erzählt. Gerade als Tim es erzählen wollte, brach er ab und log, dass er schlichtweg Zeit mit Emilia verbringen wollte, es für mich aber in Ordnung war.
Um ehrlich zu sein, bin ich auch froh darüber. Schon von Anfang an war ich nicht begeistert davon, zu erzählen, was wirklich passiert ist, aber ich wollte Tim mit einer Ablehnung nicht enttäuschen.

„Aber sonst ist auch nichts weiter passiert. Von den täglichen Panikattacken mal ganz abgesehen.“ Erschrocken schlage ich mir meine rechte Hand auf den Mund.
Kann Gisela nicht einmal leise sein? Das muss jetzt echt niemand so genau wissen.

Besonders Tims Blick bringt mich fast um. Ich hab noch nie so viel Unwissen und Besorgnis in seinen Augen gesehen.

„D-du hattest was?“

„Du musst nicht alles glauben, was Gisela sagt“, versuche ich, mich, wissend, dass Tim mir nicht glauben wird, herauszureden.

„Jan, ich hab deine Handbewegung genau gesehen, das machst du immer, wenn dir ein Tick unangenehm ist. Das war nichts Ausgedachtes, oder?“

Schuldbewusst schüttle ich den Kopf.

Auf einmal kommt Tim meinem Gesicht ein bisschen zu nah, sodass ich den Atem anhalte. Eine Hand liegt auf meinem Oberschenkel, die andere an meiner Schulter.
Seit wann finde ich das so erwähnenswert? So toll? Und seit wann kribbeln die Stellen, die er berührt?

„Da reden wir später noch drüber", flüstert er in mein Ohr. Sofort bildet sich eine Gänsehaut, meine Nackenhaare stellen sich auf.

Schnell distanziert er sich wieder von mir.
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Es folgt eine weitere Nacht, die wir kuschelnd in einem Bett verbringen, nur, dass wir dieses Mal bei Tim sind.
Daran könnte ich mich echt gewöhnen.

Egal, was gerade zwischen uns passiert – ich liebe es.

𝚃𝚒𝚖𝚜 𝚂𝚒𝚌𝚑𝚝

Ich habe wirklich gedacht, ich würde es schaffen, ohne Emilia weiterzuleben, normal, als wäre nie etwas gewesen. Und ich war echt auf einem guten Weg.
Es ist nicht einmal etwas passiert, aber auf einmal war ich wieder komplett niedergeschlagen, hab gedacht, dass ich nie eine Frau fürs Leben finden werde.
Meine letzte Beziehung vor Emilia war lange her, hat aber lange gehalten und ich dachte wirklich, mit Emilia könnte es genauso sein. Vielleicht sogar mein Leben lang. Aber auch mit ihr hat es nicht funktioniert. Als wäre ich zu dumm, eine Beziehung zu führen.
Warum lerne ich keine Person kenne, die mich auch aus tiefstem Herzen liebt, mit mir durch Dick und Dünn gehen würde, die mich so akzeptiert, wie ich bin, die alles für mich tun würde, die mich in allem unterstützt?
Vielleicht bin ich auch einfach noch zu jung und naiv, um zu verstehen, dass das lediglich eine Märchenvorstellung von meinem Traumpartner ist. Dass diese Person nicht existiert. Dass so eine Beziehung nicht existiert.

Dazu habe ich Jan komplett alleine gelassen mit seinen Panikattacken.
Ich weiß, wie bösartig sein und auch ausgehen können, ein paar Mal habe ich sie miterlebt. Jan in solch einer leidenden Situation zu sehen, hat mir schon immer den Atem geraubt. Wie schlimm die erst waren, als er alleine war. Ich will gar nicht darüber nachdenken.
Warum war ich nur so sehr auf mich und mein Glück fokussiert? Ich hätte so viel verhindern können.

Aber jetzt sollte ich nicht weiter darüber nachdenken, sondern einfach seine Nähe genießen und schlafen.
Das Ganze tut mir unglaublich gut.

𝔽𝕣𝕦̈𝕙𝕝𝕚𝕟𝕘𝕤𝕖𝕣𝕨𝕒𝕔𝕙𝕖𝕟 | Gewitter im KopfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt