Kapitel 64.

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Vogelgezwitscher und schwaches Licht weckt mich auf. Ich bewege mich leicht und habe das Gefühl, als würde ich gleich aus der Hängematte fallen. Hinunter in zwei Meter Tiefe. Nur noch fünf Zentimeter Stoff sind zwischen mir und dem Abgrund. Schnell rutsche ich weiter ins Innere der Hängematte. Meine Hände fühlen sich aufgedunsen und feucht an. Ich erinnere mich an gestern Abend. Es hat geregnet.

Und viel zu schnell kommen die gesamten Erinnerungen an den letzten hat Tag zurück.

Meine Klamotten sind nass, aber meine Haut ganz unten ist trocken. Zum Glück hat es nicht allzu stark geregnet. Trotzdem hat er meine Lippen so spröde gemacht, dass ich Blut schmecke, als ich mit der Zunge darüberfahre. Langsam klettere ich aus dem nassen Stoff auf den Boden. Ich bin nicht die erste, die aufgewacht ist. Jackson und ein paar seiner Paddler stehen um eine Feuerstelle herum, um sich zu wärmen. Ich sehe, dass sie spärlich bekleidet sind. Sie tun mir Leid, als ich sie so sehe. Obwohl mir Jackson immer noch unsympathisch ist, würde ich ihm jetzt auf der Stelle etwas von meinen Klamotten abgeben. Ich ziehe die Stoffjacke aus und reiche sie ihm. Es ist seltsam, dass er als Chef des Bootsverleihes, wie Benjamin gesagt hat, am wenigsten Klamotten hat.

Verblüfft murmelt er: „Danke.“

„Gern geschehen“, antworte ich nur.

Nach und nach wachen auch die anderen auf, und Jackson beginnt mit einem Zittern vor Kälte in der Stimme: „Wir sollten beschließen, was wir tun werden. Sollen wir nach Timmins gehen? Oder zurück nach Fort Hope? Und wie sollen wir das anstellen? Wenn wir nach Fort Hope wollen, müssen wir über den See kommen. Und das schaffen wir nur mit einem Floß. Wenn wir uns für Timmins entscheiden, brauchen wir nur am Ufer entlang zu laufen.“ Er deutet mit dem Arm in eine Richtung. „Ich würde es euch gerne auf einer Karte zeigen, doch die Einzige, die wir hatten, hat der Fluss uns genommen, als das Floß zerstört worden ist.“

„Wir könnten aber auch hierbleiben“, fügt ein Mann hinzu.

„Und darauf warten, dass uns jemand zufällig entdeckt? Nein danke!“, schnaubt Jackson.

„In Fort Hope kennen wir unsere Gastfamilien. Vielleicht würden sie uns ein weiteres Mal aufnehmen. So lange, bis unsere Eltern uns abholen oder die Veranstalter sich melden“, schlägt Avery vor. Ich frage mich, was die Veranstalter dann machen würden, wenn wir in Fort Hope auftauchen. Werden sie uns ignorieren? Wohl eher nicht... Ich könnte mir vorstellen, dass sie wieder nur ihre übliche Masche weiterspielen. Dass ihre Technik defekt war und uns eine Reihe von unglücklichen Ereignissen zugestoßen ist, für die sie nichts können. Ich frage mich sogar, was sie tun würden, wenn jemand von uns sterben würde. Wenn sie eine Menschen auf ihrem Gewissen hätten, der wegen ihren „Spielchen“ gestorben ist. Doch dann fällt mir ein, dass sie das längst tun. Daniel hat bereits einen Menschen umgebracht.

Etwas in meinem Bauch zieht sich zusammen. Wie kann ein Mensch nur so grausam und skrupellos sein? Nur, um sein dämliches Ziel zu erlangen!

„Aber wir bräuchten ein Floß, mit dem wir über den See kommen und wir haben kaum genug Materialien dafür. Außerdem wäre es von Timmins um einiges leichter, ein Flugzeug zurück nach New York zu bekommen, weil es eine größere Stadt ist, als Fort Hope“, meint Jayden.

„Aber der Weg nach Timmins ist länger!“, sagt ein Paddler. „Allein die Fluglinie von Timmins nach Fort Hope beträgt 99 Kilometer!“

„Die Luftlinie ist länger, ja, aber wenn wir nach Timmins wollen, müssten wir nur dem Fluss folgen. Ich kenne mich hier ein bisschen aus. Wenn wir am Fluss entlanglaufen, kommen wir irgendwann an eine Straße, die direkt nach Timmins führt. Wenn wir Glück haben, können wir von dort aus per Anhalter zum Flughafen gelangen...“, sagt ein weiterer Paddler, dem es sehr wichtig scheint, dass wir nach Timmins gehen. Später erfahre ich, dass er Max heißt.

Aber ich höre schon gar nicht mehr richtig zu. Ich lasse sie einfach diskutieren. Es ist mir sowieso egal, was sie entscheiden. Hauptsache, ich komme nach Hause. Und zwar möglichst bald. Ich konzentriere mich einfach nur auf das leere Gefühl in meinem Bauch. Und ausnahmsweise ist es mal einigermaßen normal. Ich habe Hunger.

Nach einer gefühlten Ewigkeit haben sie endlich entschieden, dass wir nach Timmins gehen werden. Irgendwie bin ich auch enttäuscht, denn ich hätte Helene und Benjamin trotzdem gerne wiedergesehen. Sie beschließen, dass wir uns zuerst etwas zu Essen besorgen sollten und danach los wandern.

„Ich habe einmal gehört, dass man auch Regenwürmer essen kann“, sagt ein Mann. Kim verzieht das Gesicht und auch ich bin nicht gerade begeistert von der Idee, Regenwürmer zu essen. Als er unsere Blicke sieht, meint er: „Es ist besser, als ihr denkt!“ Einige ziehen die Augenbrauen hoch. „Wenn ihr nicht wollt... Ich werde welche sammeln. Besser, als nur Beeren zu futtern!“

„Also ich bleibe lieber bei den Beeren! Ich bin Vegetarierin!“, antwortet Kim trotzig und dreht sich zum Wald um, um nach welchen zu suchen.

Der Mann geht in die andere Richtung, um ein paar Regenwürmer zu finden. Ich bin überrascht, als ihm etwa fünf von seinen Leuten und Carter, Jayden und Logan folgen. Ich zögere kurz, ihnen ebenfalls zu folgen, doch dann entscheide ich mich für Kim.

- - -

Eine Stunde später habe ich gerade mal eine Handvoll Beeren gesammelt. Die Gegend hier ist nicht sehr ergiebig. Seufzend setze ich mich zu Jayden und den anderen Jungs, die bereits ihre Regenwürmer futtern. Ich stopfe mir die Beeren in den Mund und bin danach noch hungriger als vorher.

Ich starre so lange auf die Würmer in Jaydens, der neben mir sitzt, Hand, bis er es bemerkt und mir welche anbietet. Ich schüttle angewidert den Kopf. „Komm schon. Ich weiß, dass du Hunger hast! Sie schmecken gar nicht mal so übel!“ Er hält mir einen direkt vor die Nase und ich weiche nach hinten aus.

„Nein danke!“

„Sie schmecken nach roher Kartoffel“, sagt er, und tut, als würde er nochmal genauer schmecken.

Er bemerkt meinen zweifelnden Blick, und meint: „Nein, ehrlich! Das einzige, was stört, ist der Sand, der an den Zähnen knirscht.“ Er schaut mich an und an seinem Blick sehe ich, dass er es völlig ernst meint. „Greif zu, bevor ich sie alle gegessen habe!“ Er hält mir seine Hand hin, auf der sich tote Würmer tummeln. Zögernd strecke ich meine Hand danach aus, weil mein Magen unerträglich knurrt. Aber ich ziehe sie sofort wieder zurück, kaum habe ich einen auch nur mit der Fingerspitze berührt. „Ich weiß, dass du Hunger hast!“, wiederholt er. Diesmal hat er mich überzeugt. Ich ziehe einen langen Wurm aus dem Haufen und lasse ihn vor meinen Augen baumeln. Ich vergewissere mich nochmals, ob er auch wirklich tot ist. Die Vorstellung, dass er später in meinem Magen herumkrabbeln könnte, jagt mir irgendwie Angst ein. Ich erinnere mich an den Trick, von dem meine Schwester Lisa mir einmal erzählt hat: Einfach mit der einen Hand die Nase zuhalten und mit der anderen das Essen in den Mund stopfen. Dadurch schmeckt man nichts mehr.

Als ich meine Hand zur Nase führe, weiß Jayden sofort, was ich vorhabe und lacht kurz auf. „Lass das. Es wird dir schmecken. Vertrau mir!“ Ich bin mir da nicht so sicher wie er, aber ich höre auf ihn. Ich lasse die Hand wieder sinken und schaue ein letztes Mal den Wurm an. Und dann stecke ich ihn mir in den Mund.

WoodkissWhere stories live. Discover now