Kapitel 6.

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Das erste was ich denke, als ich wieder draußen im Regen stehe, ist, dass ich ihn nie wieder sehen möchte. Er ist ein … In Gedanken gehe ich eine ganze Reihe Schimpfwörter durch, die auf ihn zutreffen könnten. Jetzt kenne ich sein wahres Gesicht. Er hat immer vorgetäuscht, jemand anderes zu sein, als er ist. Er hat es so gut vorgespielt, dass sogar ich, die Person, die ihn wahrscheinlich am besten kannte, darauf hereingefallen ist. Aber wahrscheinlich hat niemand ihn richtig gekannt. Das einzige, was ich spüre ist Wut, Wut auf ihn und dass er mich jahrelang betrogen hat. Ich spüre keine Trauer mehr, ich habe verstanden, dass er es nicht wert ist. Jetzt möchte ich ihn nur noch so schnell wie möglich vergessen.

Ich stecke meinen Hausschlüssel in das Schlüsselloch und drehe ihn um. Kaum habe ich die Türe geöffnet, höre ich schon die Stimme meiner Mutter, die von oben ruft: „Laura? Bist du das?“ Sie erscheint oben auf der Treppe mit einem Geschirrtuch in der Hand. „Ist alles in Ordnung?“, fragt sie besorgt und kommt die Treppe hinunter.

„Ja, Mum, es ist alles okay“, lüge ich. Das Letzte, was ich jetzt will, ist, dass meine Mutter mich tröstet, auch wenn sie es gut meint und ich sie dafür liebe. Sie würde mich nur wieder an alle schrecklichen Momente erinnern, obwohl ich gerade versuche, es zu vergessen.

Sie wirft mir einen Blick zu, der so viel heißen soll, wie: Wirklich?

Ich nicke kurz und bahne mir einen Weg zwischen ihr und der Wand durch und verschwinde in meinem Zimmer.

Ich bin froh, dass meine Mutter mir nicht folgt, obwohl sie genau weiß, dass nicht alles okay ist. Ich möchte jetzt nur allein sein.

Erschöpft setze ich mich auf mein Bett und starre ins Leere. Ich versuche, an nichts zu denken, alle Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Aber wie so oft funktioniert es nicht. Wenn die Trauer und er Schmerz gerade eben verschwunden ist, jetzt treffen sie mich vereint wie ein Schlag.Ich fühle mich, als wäre ich in ein tiefes Loch gefallen, mit endlos hohen schwarzen Wänden, aus dem ich nie wieder herauskommen würde. So arg ich es mir auch einreden möchte, dass es mir nichts ausmacht, dass Liam mich so verletzt hat, immer weiß ich, dass es nicht stimmt. Es macht mir sehr wohl etwas aus, dass er mich verlassen hat, ich möchte es nur nicht wahrhaben. Wie ein kleines Kind klammere ich mich daran, dass es nicht passiert ist, dass es nur ein böser Traum ist, auch wenn mein Verstand mir sagt, dass es die Realität ist. Dass es nie wieder so sein wird wie früher.

Am liebsten würde ich auch für immer in diesem „Loch“ bleiben, aber ich weiß, dass das nicht geht und dass Liam es nicht verdient hat. Ich kann mich nicht bis in alle Ewigkeiten verstecken und darauf warten, dass es besser wird. Ich denke, wenn ich in diesem „Loch“ bleibe, werde ich immer weiter abrutschen und vielleicht nie wieder herausfinden. Also wird es Zeit, zu kämpfen und „normal“ weiterzuleben und alles, was passiert ist, so gut wie möglich zu vergessen. Auch wenn ich weiß, dass ich wohl nie wieder alles vergessen werde, denke ich, dass es ein Versuch wert ist. Auch, wenn ich denke, dass ich nie wieder jemanden so lieben könnte, wie Liam.

- - -

Nachdem ich beschlossen habe, aufzustehen, und mich zu meiner Familie zu gesellen, sitzen wir alle versammelt vor dem Fernseher.

Die Nachrichten langweilen mich und da der Sprecher so leise spricht, ist es fast einschläfernd. Niemand sagt etwas und die Stille ist fast unheimlich. Wahrscheinlich geht es nicht nur mir so, denn meine Mutter fragt auf einmal: „Laura?“

„Hm?“ Ich erschrecke fast und schaue zu ihr.

„Die Firma von Dad veranstaltet dieses Jahr in den Sommerferien eine Tour für acht Jugendliche von 17 bis 18 Jahren, die schon einen Führerschein haben, durch Nordamerika. Ihr seid ganz allein, ohne einen Betreuer und müsst allein in der Wildnis zurecht kommen. Wir müssen nicht mal etwas dafür bezahlen, da ihr dafür ein Videotagebuch drehen müsst, das im Fernsehen übertragen wird. Wir dachten uns...“

„... vielleicht wäre das etwas für dich?“, beendet Dad den Satz.

Mein Dad arbeitet bei einem Fernsehsender in New York in Manhattan und ist deshalb meistens nur am Wochenende zu Hause, weil Mum wollte, dass wir außerhalb von Manhattan aufwachsen, in Staten Island.

Ich zucke mit den Schultern. Eigentlich bin ich ja nicht so der Outdoor-Fan, trotzdem hört sich das gut an. Eine Freundin von mir hat vor einem Jahr einmal bei einen Überlebens-Workshop mitgemacht und seitdem schwärmt sie nur noch davon. Vielleicht wäre das ja auch etwas für mich … Und außerdem könnte ich ein bisschen Ablenkung wirklich gut gebrauchen.

„Wie lang?“, frage ich.

An dem Blick meines Vaters sehe ich, dass es die Frage war, vor der er sich am meisten gefürchtet hat. „2 Monate“, antwortet mein Vater und schaut mich skeptisch an.

An normalen Tagen würde ich jetzt nein sagen, weil ich noch nie so lange von zu Hause alleine weg war. Dabei bin ich immer ziemlich empfindlich und bekomme schnell Heimweh. Aber im Moment ist mir eigentlich alles egal.

Jetzt denke ich gar nicht lange nach und sage einfach: „Ich mache es.“

WoodkissWhere stories live. Discover now