Kapitel 50.

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Erst ein paar Sekunden später kann ich die Augen wieder öffnen.

Mein Bauch krampft sich stark zusammen, als ich erwarte, dass Logans Hand von einer Metallspitze durchbohrt ist. Und noch stärker ist die Erleichterung, als ich sehe, wie der Pfeil etwa vier Zentimeter über Logans Finger zitternd steckt. Vor Schock ruht er immer noch in derselben Position und starrt ungläubig auf den Pfeil.

Daniels Gelächter durchdringt als erstes die Stille, die im Raum eingekehrt ist. Lautes Getuschel stellt sich ein. Ich kann mich erst später wieder fassen und rufe fast etwas zu laut: „Oh mein Gott, Logan! Es tut mir Leid!“ Ich renne los und fast wäre ich auch noch über ihn gestolpert, hätte ich nicht im letzten Moment abgebremst.

Logans Hand ist immer noch wie festgeklebt an der Wand. Schockiert starrt er den Pfeil an, der nicht einmal eine Handbreit von seiner Hand entfernt steckt. „Es tut mir so Leid!“, sage ich wieder. „Geht es wieder?“

Einen Augenblick sagt er nichts, dann meint er verwirrt: „Ja … ist schon in Ordnung!“ Als wollte er den Schreck abschütteln, bewegt er seinen Kopf hin und her. Etwas wackelig auf den Beinen steht er auf und geht in Richtung Absperrung. Dabei hat er komplett vergessen, dass sein Pfeil, den er eigentlich holen wollte, noch in der Wand steckt. Auf den Lippen kauend schaue ich ihm nach und das schlechte Gewissen brennt in mir. Mein Blick wandert langsam zu meiner Gruppe. Ich erwarte, dass Daniel mich böse oder triumphierend ansieht. Doch das tut er nicht. Stattdessen sehe ich, wie er James etwas ins Ohr flüstert. Kaum einen Augenblick später höre ich James in weiter Entfernung schreien: „Das war absolut unverantwortlich! Wie kannst du nur?!“ Denkt er, ich hätte es mit Absicht gemacht? Hätte Daniel mich nicht abgelenkt, wäre das alles nicht passiert. Aber natürlich haben die anderen nur gesehen, wie mein Pfeil fast Logan getroffen hätte. Ich höre James schon nicht mehr zu. Mein Blick fällt auf Jayden, der ganz in der Ecke steht und mich nur mit einem ausdruckslosen Blick anstarrt. Ich habe keine Ahnung, was er damit sagen will. Und dann reiße ich mich los und ziehe entschlossen, es beim nächsten Mal besser zu machen, Logans Pfeil aus der Wand. Dasselbe tue ich mit meinem eigenen und während ich zu der Absperrung zurück gehe, würdige ich die anderen keines Blickes. Ich ignoriere es einfach. Genauso wie ich es in letzter Zeit schon mit so vielen Dingen getan habe. Ich drücke Logan den Pfeil in die Hand und flüstere ihm noch eine Entschuldigung zu.

Als ich wieder bei meiner Gruppe ankomme, zieht James mich sofort von Avery und Daniel, der immer noch dreckig lacht, weg. „Was hast du tun wollen?“, fragt er streng und durchbohrt mich mit seinen dunklen Augen.

„Das war ein Versehen!“, sage ich. James erwidert das bloß mit einem prüfendem Blick. „Ich wollte Logan nichts tun!“ Meine Stimme klingt hysterisch und sofort schäme ich mich dafür. Denkt James etwa, ich wollte Logan verletzen? Wieso?

James scheint für einen Moment zu überlegen, dann flüstert er mir zu: „Na gut, ich glaube ihnen, Miss Wood. Aber sollte sich dieser Vorfall wiederholen, werde ich es den Betreuern erzählen!“

„Ich würde das nicht mit Absicht tun!“ Doch er hört mich schon gar nicht mehr, sondern geht wieder zu Daniel und Avery zurück. Nun ist er an der Reihe mit dem Schießen.

Mein Blick huscht zu Daniel, der etwas abseits steht und mich jetzt triumphierend anlächelt. Doch da glitzert noch etwas mehr in seinen Augen – als wollte er mit diesem Blick noch mehr sagen. Etwas, das mit dem Vorfall gerade eben zusammenhängt. Aber ich komme nicht darauf. Ich funkle ihn nur mit einem Blick an, der so viel heißen soll wie: Rache.

Nur habe ich keine Ahnung, wie ich das anstellen könnte.

Frustriert hebe ich meinen Bogen vom Boden auf, den ich vorhin Daniel in die Arme gedrückt habe. Er muss ihn auf den Boden gelegt haben. James trifft den äußerten Rand der Zielscheibe. Nachdem er seinen Pfeil geholt hat, legt Daniel den Pfeil an die Sehne. Ich versuche, ihn mit durchdringenden Blicken abzulenken, aber das funktioniert nicht. Er würdigt mich nicht eines Blickes. Nicht eine Sekunde, nachdem er den Pfeil angelegt hat, lässt er ihn auch schon wieder los. Er bleibt genau in der Mitte stecken. Ohne etwas dagegen tun zu können, klappt mir die Kinnlade herunter.

Daniel klettert mühelos über die Absperrung, die nur aus einem dünnen roten Seil besteht und geht auf die Scheibe zu. Mit einem Ruck zieht er den Pfeil heraus und kommt mit einem triumphierendem Grinsen im Gesicht wieder zurück. Er schaut dabei nur mir in die Augen. Genau dieses Grinsen ist es, was mich noch mehr anstachelt, den Pfeil genau im schwarzen Punkt zu versenken. Ich hebe den Bogen, lege den Pfeil an und gerade will ich ihn loslassen, als schon wieder Daniels Stimme in meinem Ohr ertönt. „Da staunst du, was?“ Er lacht. Mir stellen sich dabei selbst die kleinsten Härchen auf. „Du hast es nicht einmal geschafft, die Scheibe zu treffen!“ Lass dich nicht von ihm provozieren, Laura! Das lenkt dich bloß ab! Mein Hand zittert so stark, dass ich das Ziel wieder um Meter verfehlen werde. Lass ihn los!, flüstert eine Stimme in mir. Und ich tue es.

Ein Meter über der Scheibe bleibt er stecken. Immerhin habe ich niemand anderes gefährdet. Daniels schallendes Gelächter macht mich verrückt und fast zerreiße ich das rote Absperrband, als ich versuche, darüber zu klettern. Ich bin fassungslos darüber, wie leicht ich mich von ihm ablenken lasse. Ich versuche, mich zu beruhigen und sein Lachen zu ignorieren.

Und so tue ich es auch mit dem Kommentar, das er rauslässt, als ich wieder bei ihm stehe: „So viel Talent hätte sogar eine Fünfjährige!“

Ich will ihm kontern, doch dann entscheide ich mich dafür, es einfach zu ignorieren. James trifft mühelos die Scheibe. Währenddessen flüstert Daniel: „Weißt du, warum ich mich in das Cockpit des Flugzeugs gesetzt habe?“ Ich antworte nichts darauf. „Der Pilot war ein Bekannter meiner Familie. Er hat es mir erlaubt, bei ihm zu sitzen. Weißt du, mein größter Traum ist es einmal, Pilot zu werden! Auf jeden Fall finde ich es sehr schlimm, dass jetzt der beste Freund meines Vaters tot ist...“ Bei dem letzten Satz lässt er seine Stimme traurig klingen und schnieft einmal laut. Vorhin hat er den Piloten noch „einen Bekannten“ genannt und jetzt ist er plötzlich der beste Freund seines Vaters? Vor meinem inneren Auge blitzt ein Bild des Chefs auf. Der Mann im grauen Anzug mit schiefen, gelben Zähnen und eine widerlichen Grinsen im Gesicht. Es hat genau dasselbe Lächeln wie Daniel. Erst jetzt fällt mir auf, wie viele Ähnlichkeiten die beiden haben. Beide haben schwarzes Haar und dunkle Augen. Außerdem ist die Gesichtsform sehr ähnlich.

Ich weiß nicht, ob ich ihm das mit dem Freund abnehmen soll. Jayden hat schon so etwas erwähnt. Er sagte, dass er es nicht glaubt. Und ich? Ich finde, dass Daniel es sehr überzeugend gesagt hat. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich von ihm überzeugt bin.

Daniel macht sich wieder bereit für seinen Schuss. Ich überlege krampfhaft, mir etwas einfallen zu lassen, um ihn abzulenken. Aber dann würde ich auf sein Niveau sinken. Und das ist das Letzte, was ich möchte.

Er lässt die Sehne los und der Pfeil saust durch die Luft und bleibt mit einem lauten Geräusch im Schwarzen der Scheibe stecken. Verdammt, wieso trifft er immer so gut?

Nachdem er seinen Pfeil wieder geholt hat, lobt James ihn: „Das war sehr gut. Wenn du willst, kannst du an die längeren Schießbahnen gehen.“ Ich hoffe inständig, dass er ja sagt und mich endlich in Frieden lässt. Sein Blick huscht kurz zu mir, dann antwortet er: „Oh ich übe lieber hier noch ein bisschen.“ Ich kann seinen gefährlichen Unterton nicht überhören. Und ich weiß ganz genau, dass er an mich gerichtet ist.

WoodkissWhere stories live. Discover now