Wir müssen alle nicht lange nachdenken, um zu wissen, wer es war. So etwas passiert nicht aus Zufall. „Daniel“, haucht Heather neben mir. Ihr abwesender Blick verrät mir, dass sie auch nicht wusste, dass er Funkgeräte versteckt hat.
„Woher wusste er, dass sie in den Flößen waren?“, fragt Jayden.
„Das wissen wir nicht sicher. Wir haben sie nicht in seiner Gegenwart benutzt“, erklärt der Paddler. Bei Daniel weiß man nie. Er war wahrscheinlich einfach nur schlau genug, um zu wissen, dass sie welche dabei haben. Nicht so wie ich. Ich habe daran nicht eine Sekunde gedacht.
„Irgendwo muss er die Batterien versteckt haben“, meint Carter nachdenklich.
„Was würdest du tun, wenn du sie unschädlich machen wolltest?“, fragt Heather.
Carter überlegt kurz, dann meint er: „Ich glaube, ich hätte sie in den Fluss geworfen. Das tut der Umwelt zwar nicht gut, aber ich glaube, dass Daniel dafür genug Skrupel besitzt.“ Ich stimme ihm in Gedanken zu.
„Es macht keinen Sinn, danach zu suchen, entweder hat das Wasser sie bereits davongetragen oder es ist in ihr Inneres eingedrungen und hat sie zerstört“, sagt Avery monoton, als Carters Hand in Richtung des Flusses zuckt. Ich sehe an ihren verweinten Augen und an dem abwesenden Blick, dass alles sie sehr mitgenommen hat.
„Wir können keine Hilfe holen“, sagt einer von Jacksons Männern. „Wir sollten uns lieber um einen Schlafplatz kümmern!“
„Es wird heute noch regnen“, sagt Jackson und wirft einen Blick zum Himmel. Er hat Recht. Dichte, dunkle Wolken hängen über dem Wald. „Es wird schwierig werden, einen trockenen Platz zu finden.“
„Ich habe einmal in einem Film gesehen, dass Leute in ungefähr derselben Situation waren wie wir jetzt. Sie haben sich eine Hütte aus Zweigen und Blättern gebaut“, schlägt einer der Paddler vor.
„Dafür sind wir viel zu viele Personen. Erstens wird es bald zu regnen anfangen und zweitens dauert es viel zu lange, etwas Anständiges zu bauen“, widerspricht ein anderer Mann, den ich nicht kenne.
Jayden eilt zu dem Trümmerhaufen, um die geretteten Hängematten zu holen. „Wir könnten sie in den Bäumen aufhängen. Wir haben für jede Person eine gefunden.“ Die einst weißen Hängematten haben sich inzwischen in einen braun-schwarzen Ton verfärbt. „Auch wenn wir dann noch nass werden, es ist angenehmer, als auf dem Boden zu schlafen.“ Außerdem hält er auch noch andere Stofffetzen in den Händen, die vermutlich die Vorhänge waren, die den Ausgang in der Hütte und das Badezimmer verdeckt haben. Er hält sie in die Höhe, und sagt: „Die hier können wir über die Hängematten spannen, damit wir nicht so nass werden.“
Ich spüre, wie der erste Regentropfen durch die Blätter auf meine Handoberfläche fällt. Die anderen scheinen auch etwas zu spüren, denn plötzlich hasten alle auf Jayden zu, der den Haufen auf schmutzigem Stoff in den Armen hält. Ich bleibe als letzte übrig. Ich nehme sie mir vom Haufen und spüre, wie weitere Tropfen auf meine nackte Haut fallen. Mir fällt auf, dass niemand außer Kim von den Vorhängen genommen hat. Es wären zu wenige gewesen, um alle zufrieden zu stellen. Fast niemand hat sich getraut, eins für sich zu nehmen und die anderen im Nassen schlafen zu lassen, während man selbst trocken bleibt.
Weil es heute warm war, habe ich nur eine kurze Hose und ein T-Shirt übergezogen. Ich und Jayden holen unsere Klamotten, die noch übrig geblieben sind. Von den zwei Jeans, den drei T-Shirts, der Jacke, den zwei Pullovern und den zwei kurzen Hosen, die ich ursprünglich vor dem Absturz bei mir hatte, ist nicht einmal die Hälfte übrig geblieben. Ein Viertel davon ist entweder zerrissen oder hat Löcher und das andere Viertel ist einfach verschwunden. Vermutlich schwimmt es jetzt im Fluss, oder ich habe es beim Flugzeugabsturz verloren.
Ich ziehe mir alles drüber, was ich habe. Das letzte, was ich will, ist, noch eine Unterkühlung zu bekommen. Danach kann sich Jayden kein Grinsen mehr verkneifen, weil ich aussehe wie ein aufgeblasener Luftballon.
Ich sehe, dass Jackson und seine Paddler keine weiteren Klamotten mehr haben, als jetzt. Sie werden durch den Regen vollkommen nass werden. Ich muss nicht lange zögern, um jedem von ihnen einen Vorhang zuzuteilen, damit sie wenigstens ein bisschen Schutz haben.
Jayden und ich suchen uns ebenfalls zwei geeignete Bäume, an denen wir die Hängematten aufhängen. Ich bin froh, dass jemand daran gedacht hat, das Seil zu Festbinden der Matten lang genug zu machen. Als ich fertig bin, hängt mein Bett für die Nacht etwa zwei Meter über dem Boden. Falls ein Bär oder ein anderes wildes Tier kommen sollte, hat es keine Chance, mich anzugreifen. Außerdem beruhigt es mich, dass ich weiß, dass Jayden neben mir seine Hängematte aufgehängt hat. Die Bäume stehen so dicht aneinander, dass sich, wenn wir unsere Arme ausstrecken würden, unsere Fingerspitzen berühren könnten.
Während ein Regentropfen nach dem anderen auf uns hinab prasselt, machen wir es uns in unseren Hängematten gemütlich. Normalerweise würde ich jetzt vielleicht noch etwas essen. Aber ich habe keinen Hunger. Die Gedanken und Erinnerungen an den heutigen Tag lassen mir den Appetit vergehen. Ich lasse nur wieder meinen Blick über den Ort schweifen.
Irgendwie sieht es auch lustig aus, wie etwa 15 Personen ihre Hängematten in den Bäumen aufgehängt haben. Wenn die Situation anders wäre, hätte ich es vielleicht fotografiert. Logan liegt nur ein paar Bäume von mir entfernt und starrt in den Himmel. Ich frage mich, was er wohl denkt. Ich muss wieder an heute Morgen denken, als ich ihm sagen musste, dass ich ihn nicht liebe. Ist er immer noch enttäuscht? Wir haben seitdem nicht mehr miteinander gesprochen und er scheint traurig.
Ich wende meinen Blick von ihm ab und sehe in die Baumkronen auf, die nach und nach mit der Dunkelheit verschmelzen. Ich muss alle paar Sekunden blinzeln, weil die Tropfen in meine Augen fallen, aber ich möchte sie nicht schließen. Ich könnte ohnehin nicht schlafen. Die Gedanken würden mich wach halten.
Meine Gedanken kreisen immer um diese eine Frage, die mich so quält: Wieso tut Daniel das? Ich habe die ganze Zeit vermutet, dass er irgendetwas mit dem Absturz zu tun hat oder mit den Platten. Am Morgen, bevor er die Platten entdeckt hat, ist er mit einer Kiste Nägeln und einem Hammer herumgelaufen. Das war doch so offensichtlich! Aber er hat es dennoch geschafft, es uns allen auszureden, dass er es getan hat. Sein Schauspieltalent überrascht mich. Er hat mich beim Bogenschießen so abgelenkt, dass ich fast in Logans Hand geschossen hätte.
Ich schließe die Augen und lasse den Regen, der immer stärker wird, über mein Gesicht ergehen. Ich denke daran, dass wir hier völlig gefangen sind. Wir haben noch nicht beschlossen, was wir morgen tun werden. Ich schiebe die Gedanken an heute und morgen weg und versuche, einzuschlafen.
Es erscheint mir wie eine Wunder, als es tatsächlich funktioniert. Aber der prasselnde Regen auf den Blättern über mir macht schläfrig.
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Woodkiss
AdventureDu hattest du schon immer mal den Traum, zwei Monate ganz alleine und ohne deine Eltern mit sieben anderen Jugendlichen Nordamerika zu reisen? Und das in einem alten VW-Bus? Genau diese Chance hat die siebzehnjährige Laura Wood, einmal von der Schul...