Teil 20- Lotos

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Akribisch sortierte ich die Kohlestifte vor mir. Noch fünf Minuten. Gern würde ich noch eine rauchen gehen, doch stattdessen griff ich zu der Kursliste und studierte die Anzahl der Studenten, die ich dieses Semester betreuen würde. Mein Kurs hatte letztes Jahr viel Zuspruch gefunden, sodass sich knapp 30 Namen auf der Liste eingetragen haben. Einige der Gesichter kannte ich, andere waren mir gänzlich fremd. Eine große Blondine kam strahlend auf mich zu, ihre Absätze hallten unnatürlich laut wieder, wie ein Ticken das mir zeigte, ich würde hier nicht mehr rauskommen. „Mira, wie schön, dass du wieder einen Kurs machst!" Ihre Hand landete auf meiner Schulter und drückte leicht zu, bevor auch sie sich direkt vor meiner Staffelei niederließ. Wie immer erwiderte ich nichts, Marie Manuel, war gelinde gesagt ein Fall für sich, mit dem ich mich nicht befassen wollte. Ihr Blick ruhte noch immer auf mir, ich war es gewohnt. Die Tür flog auf und wilde, braune Locken stürmten in den Raum. „Du bist spät, Angelik" begrüßte ich sie. „Tut mir leid, die Metro." hektisch ließ sie ihre Sachen neben das Fenster fallen, griff nach einer Tasche und verschwand im Nebenzimmer. Gelassen steckze ich meine Haare hoch und rollte mit meinem Stuhl vor die Staffelei. „Dann fangen wir jetzt an. Einige kennen mich noch aus dem letzten Jahr, für die anderen stelle ich mich kurz vor. Ich bin Mira, nur Mira bitte, ich werde auf die ganzen Förmlichkeiten verzichten. In meinem Seminar werden wir uns mit Bildhauerei beschäftigen, mit dem Schwerpunkt des menschlichen Körpers in Bewegung. Dazu werden mehrere Studien angefertigt, unter anderem Aktmalerei. Wenn ihr Fragen habt, dann stellt sie mir!" sofort schossen einige Hände in die Höhe. „Wie alt bist du?" Es waren immer dieselben Fragen. „Älter als ihr.", antwortete ich ruhig. „Kommst du aus Paris?" - „Nein." Die Antwort reichte ihm nicht, „Und woher dann?" Interessiert schaute er an der Seite seiner Staffelei vorbei, um mich besser mustern zu können. „Sagen wir so, ich würde mich als Weltbürger bezeichnen, alles andere würde zu weit gehen, das hier genau zu erklären." Er wollte weiter fragen, doch da flog die Tür wieder auf, Angelik stolziert auf mich zu. Nur in Unterwäsche gekleidet, gewährte sie allen einen Blick auf ihren nackten Körper. Obwohl sie sich alle als „Künstler" betiteln, gafften die meisten sie einfach an. „Das ist Angelik, sie werdet ihr dieses Semester immer wieder zeichnen dürfen. Wir fangen heute mit einfachen Skizzen an, ich möchte mir einen Überblick verschaffen, wie weit ihr seit." Angeliks Lippen landeten auf meinen Wangen. „Sorry, das nächste Mal bin ich pünktlich." sie öffnete die Spange, die ihre oberen Haare zumindest gebändigt hatten und sofort bestand sie fast ausschließlich aus Karamellfarbenden Locken. „Wärm dich einfach auf, kleine Übungen, heute ist es nicht so anspruchsvoll." ich rollte wieder zu meiner Staffelei und fing an sie beim Aufwärmen zu skizzieren. „Die Herren, fangt an!" genervt schaute ich die Gruppe um den blonden Fragesteller an. Er grinste und hob den Daumen in meine Richtung. Einen gab es immer. Ich widerstand den Drang die Augen zu verdrehen.

Schnell hatte ich einige Beispiel Skizzen angefertigt und ließ meinen Blick durch die Gruppe vor mir gleiten. Die meisten waren in ihre Arbeit vertieft, einige saßen unschlüssig vor ihrem Blat, andere rissen es ab und knüllten es zusammen. „Nicht radieren, nicht wegschmeißen. Arbeitet mit dem, was ihr habt." ermahnte ich sie. Marie Manuel kaute auf ihrem Stift herum, ihre knallroten Lippen hinterließen einen Abdruck auf dem weißen Stift. Ein Stich in meinem Brustkorb brachte mich aus meinen Gedanken zurück. Dieses Rot, es schrie, erinnerte mich schmerzlich an den Moment vor sieben Jahren. Es war besser geworden, ich hatte heute noch nicht an sie gedacht, eigentlich hatte ich seit gestern Morgen jeden Gedanken an sie gemieden. Nach fast sieben Jahren war ich geübt darin, meine Gefühle komplett auszublenden. In Paris fiel es mir immer noch schwer, zu sehr erinnerte mich alles an sie, doch ich stellte mich diesen Schmerz. Zwei Jahre hatte es gedauert, bis ich wieder schlafen konnte, zwar immer noch nicht ohne Alpträume, doch ich konnte es. Ich hatte gelernt damit zu leben, den Schmerz zu ertragen. Zwei Jahre hatte ich in einer einsamen Hütte in den Rocky Mountains verbracht, keinen Kontakt zur Außenwelt, niemanden gesehen, gesprochen, bis auf einige wenige Lebenszeichen, die ich Damjan schickte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und begab mich zurück in die Zivilisation. In meiner Verzweiflung meldete mich bei den Weisen, ließ mich zu Kriegsplätze schicken. Ich kämpfte, kämpfte so lange bis es keine Kriege mehr gab, zu denen ich noch konnte. Die, die noch herrschten, mussten die Menschen alleine beschreiten, die Weisen untersagten eine Einmischung. Damjan lockte mich wieder nach Europa, der nächste Krieg würde sich anbahnen, sie brauchten einen Vermittler. So fand ich mich nach sechs Jahren der Flucht in Paris wieder, ließ mich treiben, fand so etwas wie Zerstreuung und blieb. Ich eröffnete ein gut laufendes Atelier, aus dem eine Anstellung an der Hochschule der schönen Künste, der ENSBA Paris, wurde, einen Ort den ich damals bei seiner Erbauung mitbegründet hatte. Irgendwie boten mir die Gemäuer Zuflucht, hielten meine Gedanken die meiste Zeit fern und erlaubten mir zumindest so zu tun, als sei all das, was vor nunmehr sieben Jahren passiert ist, nur ein Gebilde meiner Fantasie gewesen. Zu gern flüchtete ich in die großen Kellergebäude der Akademie und verschanzte mich mit meinen Studenten dort um unter schrillen Klängen, von irgendwelchen Bands, die ich bis vor einigen Monaten gar nicht kannte, vermeintliche Kunstwerke zu schaffen. Es war eine Idee gewesen, die aber bei vielen Anklang gefunden hatte, und so zerstörten wir viele der geschaffenen Werke oft am Ende der Stunde, indem wir sie entweder anzündeten oder zerschlugen. Sie fanden es befreiend und insgeheim beneidete ich sie darum, dass sie in so etwas simplen Befriedigung finden konnten.

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