Kapitel 9

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„Jegliche Furcht rührt daher, dass wir etwas lieben." - Thomas von Aquin

Ich höre einen markerschütternden Schrei. Ich habe keine Ahnung, woher der Schrei kommt oder wo ich bin. Verwirrt sehe ich mich um. Die Angst lähmt mich und es fühlt sich an, als wären meine Adern mit Blei gefüllt. Mein Blick bleibt an meinen Händen hängen. Sie sind blutverschmiert. Ich keuche auf und realisiere im selben Augenblicke, das der Schrei von mir selbst kam. Überall ist Blut. Ich will weg von hier. Ich schreie wieder. Und plötzlich blicke ich in die Augen meiner Mum. Die toten, kalten Augen meiner Mum. Sie liegt reglos am Boden. Der Teppich ist mit ihrem Blut durchtränkt und der Geruch löst einen Brechreiz in mir aus. Ich lasse mich neben sie sinken und taste nach ihrem Puls. Ihr Hals ist nass und ich finden das Pochen nicht, das mir bewiesen hätte, dass sie noch am Leben ist. Meine Hände beginnen unkontrolliert zu zittern und ich bekomme keine Luft mehr. Ich kann nicht mehr atmen.

Panisch schlage ich um mich und reiße mich damit selbst aus dem Schlaf. Eins, Zwei, Drei. Im Dunkeln taste ich nach meiner Nachtischlampe und knipse das Licht an. Vier, Fünf, Sechs. Ich zwinge mich zu atmen, auch wenn es mir alles andere als leicht fällt. Sieben, Acht, Neun, Zehn. Mia ist nicht da. Ich bin alleine. Meine Brust brennt, dennoch zwinge ich mich unaufhörlich Luft in meine Lunge strömen zu lassen und mit jedem Atemzug verbanne ich die Bilder tiefer in mein Unterbewusstsein. So tief, dass sie nur noch herauskommen können, wenn ich am verletzlichsten bin. So wie eben im Schlaf.

Zehn Jahre liegt der Tod meiner Mum nun zurück. Es war Selbstmord. Ein Selbstmord, in den mein Vater sie getrieben hat. Und ich hatte sie gefunden. Hatte versucht die Blutungen der Schnitte zu stoppen und hatten den Notarzt gerufen. Es kam mir vor wie Stunden, bis Polizei und Rettung uns fanden und mich von der Leiche meiner Mum wegzerrten. Sie konnten nichts mehr für sie tun. Nur noch ihren Tod feststellen. Das war der schlimmste Tag meines Lebens und die Erinnerungen haben sich so tief in mein Hirn gebrannt, dass ich sie wohl nie wieder vergessen würde.

Ich reiße das Fenster auf und atme so viel von der kühlen Nachtluft ein, wie ich kann. Es regnet und die feinen Tröpfchen benetzen meine Haut. Kurz entschlossen ziehe ich mir meine Schuhe an und gehe hinaus auf den Parkplatz, der von einigen Lampen erleuchtet wird. Ich weiß nicht wie lange ich so im Regen stehe. Die Tropfen werden immer größer und kühlen meine erhitzte Haut. Es fühlt sich unbeschreiblich gut an. Ich lasse meinen Blick über den Parkplatz gleiten und bleibe an der Stelle hängen, an der ich ihn zuletzt gesehen habe. Jace. Beinahe eine Woche ist vergangen, seit ich ihm seinen Pulli zurückgegeben habe und ich bereute das jeden Tag. Ich vermisste seinen Geruch und immer wenn ich an ihn denke zieht sich mein Magen zusammen und ich habe ein mulmiges Gefühl im Bauch. Gott sei Dank hatte ich jeden Tag zahlreiche Vorlesungen und die Dozenten deckten uns zur Genüge mit Aufgaben ein. So hatte ich nicht wirklich Zeit mir Gedanken über einen ganz bestimmten Typen namens Jace Archer zu machen. Bis jetzt. Ich fragte mich unwillkürlich, ob ich ihn wieder sehen würde. Ich würde mich selbst belügen müssen, wenn ich behaupte nicht jeden Tag am Campus und in meinen Vorlesungen Ausschau nach ihm gehalten zu haben. Und jedes Mal, wenn ich im Augenwinkel einen dunklen Haarschopf wahrgenommen hatte, war ich zusammengezuckt und hatte meinen Blick gesenkt. Aber kein einziges Mal war wirklich er es gewesen. Ich seufze. Einerseits wollte ich ihn wieder sehen. Das war kein rationaler Gedanke. Irgendetwas tief in mir zog mich zu ihm und ich hatte noch nicht herausgefunden was es war. Es fühlte sich an als würde mich eine unsichtbare Schnurr an ihn binden, die sich jedes Mal strafft wenn ich an ihn denke und dadurch dieses mulmige Gefühl auslöst. Wenn ich wirklich vernünftig darüber nachdenke, dann wollte ich ihn nie wieder sehen. Unser letztes Treffen war zu peinlich und außerdem war er ein echtes Arschloch - ich konnte es einfach nicht schönreden.

Was ist das nur? Warum kann ich nicht aufhören an ihn zu denken? Ich trete gegen den Bürgersteig und lasse mich auf einen Sockel neben dem Eingang gleiten während ich die Sonne beobachte, die langsam am Horizont hochkriecht während der Regen unablässig auf mich niederprasselt. Nach einer Weile in der ich gedankenlos ins Nichts geblickt habe gehe ich wieder hinein und stelle mich unter die Dusche. An Schlafen war jetzt sowieso nicht mehr zu denken. Was ich dringend brauchte waren Pencakes.

Zurück im Zimmer stecke ich mein Handy ab und werfe mich damit aufs Bett. Zwei verpasste Anrufe von Dan und vier Nachrichten. Ich lösche sie ohne mir auch nur eine davon durchzulesen. Dann drücke ich die Kurzwahltaste und halte mir das Handy ans Ohr. "Hallöchen Schönheit! Schon auf?" Mia scheint hellwach zu sein. Um vier Uhr in der Früh. Was sie wohl die ganze Nacht getrieben hat... Ich verdrehe die Augen. Die richtige Frage war eher: mit wem sie es wohl die ganze Nacht getrieben hat. Ich lache innerlich auf. "Jup, ich kann nicht mehr schlafen." Ich bin noch immer ganz heiser. "Was ist los?" Mia klingt alarmiert und senkt die Stimme. "Hattest du schon wieder eine Attacke?" Abgesehen von Drew ist sie die Einzige, die davon weiß und sie ist die Einzige, die die Anzeichen dafür erkennt. "Ja, aber keine große Sache." Ich starre an die Decke. "Ich brauch nur Pencakes und einen Espresso, dann ist alles wieder gut." Nichts war gut. Aber dabei ging es weniger um meine Psyche als um meine verdammten Gedanken, die immer wieder zu ganz bestimmten braunen Augen zurückkehren. "Okay ich bin schon am Weg." Sie legt auf und ich ziehe mich an. Als ich in meiner Kommode wühle halte ich instinktiv nach einem schwarzen Pulli ausschau. Verdammt, ich hätte ihn ihm nicht zurückgeben sollen. Nichts erscheint mir im Moment tröstlicher als sein Geruch. Du wirst ihn nie wiedersehen. Hör auf an ihn zu denken. Wütend knalle ich die Tür hinter mir zu.

~

"Biiiiitte!" Mia zerrt theatralisch an meinem Arm und ich kralle mich in meine Matratze. "Lass mich in Ruhe, ich hab einfach keine Lust auf so eine beschissene Party." Seit zwei Stunden bettelt sie mich an mit ihr auf eine bescheuerte Party in einem Verbindungshaus zu gehen. Aber nach der Party letzte Woche habe ich entschieden für den Rest meines Lebens genug davon. "Bitte. Ich verspreche, ich bring dich nach Hause egal wann du willst. Aber ich kann dort nicht alleine aufkreuzen!" Sie zieht einen Schmollmund, was mit ihrem roten Lippenstift unglaublich lächerlich aussieht. "Hanna und Rachel kommen doch auch mit!" Wütend deute ich auf die beiden, die es sich auf Mias Bett bequem gemacht haben und sich gegenseitig schminken. Ich werfe ihnen flehende Blicke zu. "Aber ich will diiich!" Sie gibt mir einen Klaps auf den Hintern. "Ich trinke nichts, bevor ich dich nicht heim gebracht habe. Und dafür schreibe ich die Psycho-Arbeiten für das ganze nächste Monat. Ich schwöre es bei meiner Gucci-Tasche und Tina!" Tina nannte sie ihr Auto... total lächerlich, wenn es nach mir ging. Ich Blicke sie zweifelnd an. "Okay, für die nächste Woche. Aber du musst einfach mit kommen." - "Ja, musst du." Ich werfe Hanna einen fragenden blick zu. Warum zum Teufel mischt sie sich jetzt auch noch mit ein? "Eine ganz bestimmte Person wird nämlich auch da sein." Sie zwinkert mir zu und ich weiß sofort von wem sie spricht. "Noch ein Grund mehr nicht mitzukommen.", zische ich und vergrebe meinen Kopf im Kissen.
Oder? Aber eigentlich will ich ihn sehen. Ihn riechen. Ihn spüren... Wow, wie bescheuert. Ich währe mich noch ein bisschen und verfluche mich selbst für meine dämlichen Gedanken, aber schließlich gebe ich meinen Widerstand auf und lasse mich von Mia aus dem Bett ziehen. "Na siehst du, geht doch." Sie klatscht Hanna ab und schubst mich in den Sessel vor dem Spiegel um mich zu schminken.

Ich lasse die Prozedur über mich ergehen. Nicht, dass ich überhaupt viel davon mitbekommen hätte. Sie schminken mich, glätten mir die Haare und stecken mich schlussendlich in ein eng anliegendes Minikleid mit Trägern, so dünn wie meine Nerven im Moment. Normalerweise würde ich soetwas niemals anziehen. Aber ich hatte mir etwas vorgenommen.

Ich musste Jace Archer wiedersehen und ihm so nahe kommen wie möglich. Alleine aus dem Grund um mir selbst zu beweißen, dass ich mich komplett lächerlich aufführe und an meinen Gefühlen - was auch immer sie bedeuten mögen - rein gar nichts dran ist.

Dark Love - mich kannst du nicht vergessen (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt