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Die nächsten Tage verbringe ich vormittags mit Vorlesungen und nachmittags mit stundenlangen Celloproben, die meist bis in den Abend gehen. Ich spiele so gut wie schon lange nicht mehr, was ich darauf schiebe, dass ich auch zum ersten Mal in meinem Leben nervös bin und wirklich übe, anstatt mich wie gewohnt auf mein Talent zu verlassen.

Colin verbringt jede freie Minute mit Julia und ist mir mehr als dankbar, wenn ich ihm unser Zimmer überlasse. Wenn er ein Emoji wäre, dann definitiv das mit den Herzchenaugen. Meinen Mitbewohner hat es schwer erwischt und jedes Mal, wenn ich seiner kleinen Freundin begegne, ähnelt ihr Gesichtsausdruck seinem. Ich bin fast ein bisschen neidisch auf die beiden, denn so wie sie sich begegnet und nun zusammen sind, sehe ich, wie einfach es sein kann.

In der Jogama-Gruppe bekomme ich jeden Tag süße und manchmal auch anzügliche Nachrichten und die beiden Zwillinge schaffen es immer, mich zum Schmunzeln zu bringen.

Jogama

Gabriel:
Joshua, ich glaube, du
musst nochmal bei uns
vorbeikommen.

Matt:
Ich weiß zwar gerade nicht,
warum, aber ich sage einfach
mal ja.

Wieso? Was ist los?

Gabriel:
Ich wollte dir noch was geben.

Matt:
@Gabriel Nein!

Was denn?

Gabriel:
Einen unglaublichen Blowjob
als Dankeschön.

Matt:
🤦🏻‍♂️

Du bist unmöglich!

Gabriel:
Ich weiß.
Wann kommst du?

Tut mir leid, ich habe
Proben. Vor Freitag kann
ich euch nicht dazwischen
schieben.

Matt:
Oh, ich würde mich auch
gern mal wieder bei dir
dazwischen schieben.

Gabriel:
Aber ich soll aufhören?

Matt:
Sorry, du färbst auf mich ab.
Und außerdem möchte ich
nicht, dass Joshua denkt,
dass ich nicht ununterbrochen
an ihn denke.

Ihr seid beide unmöglich!

So geht es fast jeden Tag und allmählich werde ich selbst etwas unentspannt, wenn ich an die beiden denke. Immer, wenn ich gerade mal Zeit zum Nachdenken habe, auf dem Weg zum College oder zum Wohnheim, wandern meine Gedanken zurück zu unserem Wochenende und ich gehe automatisch auf Halbmast.

Abends komme ich nicht dazu, mich selbst anzufassen, weil Colin mit im Zimmer ist und in der Dusche des Wohnheims ist es einfach nur widerlich. Ich habe ein bisschen Angst, dass mein Ständer mein Cello umwirft, wenn ich beim Vorspielen meine beiden Traummänner im Publikum sitzen sehe.

Endlich ist es soweit und ich stehe am Rand der Bühne, auf der ich gleich vorspielen darf. Ich habe mich für einen schwarzen Smoking zu einem weißen Hemd entschieden, meine Haare elegant nach oben gestylt und meine Augen leicht mit Eyeliner betont. Exzentrisch und doch stilvoll. Mein Name wird aufgerufen und ich atme tief durch, bevor ich langsam mit meinem Cello die Bühne betrete und zu dem dort bereitgestellten Stuhl gehe.

Ein einzelner Scheinwerfer blendet mich und ich sehe nur schemenhaft ein paar Stühle vor der Bühne, auf der offenbar die Juroren sitzen.
Ich räuspere mich und sage laut und deutlich: „Joshua Keane für die Position des ersten Cello."
Jemand aus den hinteren Reihen schreit laut: „Whoo!" und ich weiß instinktiv, dass es nur Gabriel sein kann. Ich verkneife mir ein Grinsen und nehme auf dem Stuhl Platz.

Ich positioniere meine Finger und den Bogen und schließe meine Augen. Im Saal ist es ganz still und dann beginne ich die Einleitung von Bachs Cellosuite Nr. 1 zu spielen. Ich gebe mich vollkommen der Musik hin, der Bogen wird Teil meiner Hand und ich verschmelze förmlich mit meinem Cello, während ich ihm die schönen Töne komplett aus meiner Erinnerung und ohne einen einzigen Blick auf das Notenblatt vor mir entlocke.

Nachdem ich geendet habe, stehe ich schwer atmend auf, sage laut und deutlich: „Vielen Dank für Ihre Zeit." und verbeuge mich tief. Von den Stühlen direkt vor mir sehe ich keinerlei Regung, aber das Publikum, das aus etwa zwanzig Menschen besteht, klatscht eifrig und ich sehe zwei dunkle Gestalten, die stehen und lauter klatschen als alle anderen, begeistert von freudigen Pfiffen und sogar einem „Zugabe"-Ruf. Ich lächle verlegen in deren Richtung und ziehe mich hinter die Bühne zurück.

Meine Lehrerin Miss Whitaker empfängt mich freudestrahlend und umarmt mich fest. „Du warst großartig, Joshua," lobt sie mich.
„Ja?" frage ich zögerlich. Erst jetzt, wo das Adrenalin langsam in meinem Körper abgebaut wird, beginnen meine Finger zu zittern. „Sie haben nichts gesagt."
„Aber sie haben dich bis zum Ende spielen lassen. Das ist ein sehr gutes Zeichen."
Ich seufze und versuche zu lächeln, doch ehrlich gesagt, ist mir schlecht und so sehe ich wohl ziemlich gequält aus.

Hinter Miss Whitaker sehe ich plötzlich zwei Paar wuschelige dunkle Haare und schlucke schwer. „Entschuldigen Sie mich kurz, Miss Whitaker?" bitte ich sie und sie nickt. „Natürlich, Joshua. Ich nehme schon mal dein Cello. Du solltest dich erst einmal beruhigen." Vorsichtig nimmt sie mein Instrument entgegen, während ich an ihr vorbei gehe.

Am Bühneneingang stehen Matthew und Gabriel und strahlen bis über beide Ohren. Ich kann nicht sagen, warum, aber plötzlich fällt es mir unfassbar leicht, die beiden auseinander zu halten.
„Joshua, das war der Wahnsinn!" ruft Gabriel begeistert. „Hast du uns gehört?"
Ich lache verlegen und nicke und ehe ich etwas sagen kann, hat er mich in seine Arme geschlossen und drückt mir einen festen Kuss auf die Lippen.
Noch immer lachend sehe ich zu Matthew, der grinst und eine Augenbraue erhoben hat. „Ganz gut, ja?" sagt er nur und ich zucke mit den Schultern.
Gabriel lässt mich los und Matthew nimmt mein Kinn in die Hand, bevor er mich sanft küsst.

„Ich wollte den Blitz nicht benutzen, aus Angst dich abzulenken, aber ich denke, ein paar der Bilder sind ganz gut geworden," flüstert er an meine Lippen. Erst jetzt fällt mir auf, dass er seine Kamera an einem Gurt über der Schulter trägt.
„Du hast mich fotografiert?" frage ich überrascht.
„Das wollte ich doch sowieso. Und ganz ehrlich, Joshua, du sahst noch nie so schön aus wie eben auf dieser Bühne."
Ich spüre, wie meine Wangen erröten, doch Gabriel schafft es, die Stimmung wieder aufzulockern.
„So, und jetzt wird gefeiert!" ruft er ausgelassen und hakt sich bei seinem Bruder und mir unter.

Wir sitzen gemeinsam im Irish Pub in der Nähe des Campus. Ich trage noch immer meinen Smoking, habe aber die Fliege etwas gelockert. Die Anspannung der letzten Tage fällt allmählich von mir ab und ich nippe freudig an meinem Guinness.
„Wann bekommst du Bescheid?" fragt mich Gabriel neugierig. Ich zucke mit den Schultern.
„Morgen sind noch Vorspieltermine für Violine und Klarinette. Ich denke, nächste Woche irgendwann. Miss Whitaker sagt, sie sind immer recht schnell in der Entscheidungsfindung," überlege ich.
„Sie müssen dich einfach nehmen. Wir haben die anderen zwar nicht gesehen, aber die können unmöglich besser sein als du, oder Matt?"

Matthew schreckt kurz hoch und fragt: „Wie bitte?" Offenbar war er mit seinen Gedanken ganz woanders. „Keiner ist besser als Joshua, oder?" fragt Gabriel ihn erneut.
Matthew blickt mir tief in die Augen und sagt: „Du hast Recht, Gabriel. Keiner ist besser als Joshua."

Dreisamkeit | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt