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Völlig erschöpft lasse ich mich auf mein Bett fallen. Vormittags war ich in meinen Vorlesungen für Wirtschaftswissenschaften und Musik, in der Mittagspause war ich laufen. Weit weg vom Campus, um Gabriel nicht zu begegnen. Und den gesamten Nachmittag bis in den Abend hatte ich Celloproben.

In ein paar Tagen habe ich ein Vorspielen für das National Symphony Orchestra, das mir sehr wichtig ist. Wenn ich die Anstellung bekomme, bessert das auf jeden Fall meinen Lebenslauf und meine Studentenkasse auf und das College wäre vollkommen aus dem Häuschen, einen Studenten zu haben, der bereits vor Abschluss seines Studiums in einem der renommiertesten Orchester des Landes spielt.

Seit zwei Wochen geht das nun so. Ich bin kaum in meinem und Colins Zimmer und das aus gutem Grund. Ich will einem - nein, zwei - gewissen Männern aus dem Weg gehen. Leider haben eben diese beiden es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, mich nicht in Ruhe lassen zu wollen.

Colin kommt ins Zimmer und holt Luft, doch ich erhebe genervt meine Hand. „Matthew?" frage ich nur und er nickt. Ich lege meinen Arm über meine Augen und seufze. Er war jetzt jeden Tag hier. Jeden verdammten Tag. Anfangs ließ ich mich von Colin verleugnen und irgendwann ging ich dazu über, einfach nicht mehr zu Hause zu sein.
Leider ist auch die Bibliothek zu einem Tabu für mich geworden, denn hier scheint Gabriel förmlich auf mich zu lauern.
Ich weiß, ich verhalte mich albern, aber ich schäme mich noch immer für das, was mir mit den beiden passiert ist.

Das Schlimmste jedoch ist: ich kann es nicht vergessen. Ich kann ihn - oder sie beide - nicht vergessen. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so verwirrt. Wann immer ich meine Augen schließe, denke ich an sein Gesicht, an sein Lachen, seine Berührung. Nur wer ist er? Matthew oder Gabriel? Meine Erinnerungen sind verschwommen, denn ich hatte sie beide und beide Male war es einfach unglaublich.

„Josh?" fragt mich Colin zögerlich und ich ahne, was er fragen will. Ich habe ihm in letzter Zeit ziemlich viel zugemutet, aber wenn er mich jetzt um das bittet, was ich denke, muss ich wohl aufpassen, ihn nicht anzuschreien.
„Ja, Colin?"
„Bitte raste nicht aus, aber.. wollen wir nicht doch mal wieder ins ‚Spartakus'? Es bringt dich vielleicht auf andere Gedanken. Ich meine, wir sind jung, wir sind auf dem College. Willst du dir jetzt dein ganzes Studium durch einen Fehltritt versauen?
Dir den ganzen Spaß verderben lassen? Selbst, wenn er und sein Bruder da sind, dann sag ihnen, sie sollen dich in Ruhe lassen und gut ist," beendet er seine Rede.

Wow, ich kann mich nicht erinnern, meinen Mitbewohner jemals so viele Sätze hintereinander reden gehört zu haben. Überrascht starre ich ihn an. Wie soll ich ihm erklären, dass das mit dem Vergessen nicht so einfach ist?
„Du hast Recht," sage ich nur.
„Echt?"
„Nein, aber ich tue dir den Gefallen trotzdem," lache ich trocken und Colin grinst stolz.
„Ich ziehe auch was Einfarbiges an."
„Sehr gut, Colin. Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung für dich."

Ich nippe an meiner Cola und blicke mich alle dreißig Sekunden um, ob nicht ein großer, hübscher Mann mir auflauert. Colin lehnt neben mir an der Bar und sieht heute für seine Verhältnisse ganz annehmbar aus. Allerdings beobachtet er nur die Menschen auf der Tanzfläche, ohne selbst jemals tanzen zu wollen und bekommt nicht mit, wie ein kleines, süßes Mädchen mit dunklen Haaren ihn permanent anstarrt.

Ich beschließe, meinem Freund heute mal einen richtigen Gefallen zu tun und gehe zu ihr und ihrer Freundin.
„Hi, ich bin Joshua," rufe ich ihr über die Musik zu. Sie sieht mich kurz an, stellt aber fest, dass ich nicht er bin und dreht sich desinteressiert wieder weg.
„Sein Name ist Colin." Sofort habe ich ihr Interesse wieder und sie ruft: „Ich bin Julia."
„Also, Julia, auf einer Skala von eins bis zehn, wie schüchtern bist du?" frage ich und sie runzelt die Stirn.
„Ich schätze, eine acht," antwortet sie schließlich zögerlich und ihre Freundin nickt zustimmend.

„Okay, dann sprichst du ihn an."
„Was?" fragt sie entsetzt.
„Süße, er ist eine zwölf. Aber glaub mir, ich kenne ihn ziemlich gut und er wird dir sehr dankbar sein, wenn du ihn ansprichst." Ich schiebe zwei Scheine über den Tisch und bestelle Colins Lieblingsbier beim Barkeeper.
„Die erste Runde geht auf mich. Viel Spaß," grinse ich und gehe langsam zwischen den Leuten Richtung Ausgang. Jetzt, wo Colin das bekommt, weshalb er überhaupt hierher wollte, kann ich auch schnell wieder nach Hause gehen.

Draußen schlägt mir wieder die kühle Luft entgegen und kurz zieht meine Brust sich zusammen, als ich die Augen schließe und tief einatme. Es ist so ein Abend wie der, als ich mit Matthew hier draußen stand. Fast glaube ich, seine Hand an meiner zu spüren und als ich aufschaue, steht er wirklich vor mir. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Matthew ist, denn er sieht ernst und nachdenklich aus.

Erschrocken schnappe ich nach Luft und sofort lässt er mich los. „Bitte, Joshua," fleht er. „Bitte lauf nicht wieder weg."
Ich kann ihn nicht ansehen, er ist so schön und er verwirrt mich und darum sehe ich schnell auf den Boden. Ich schäme mich noch immer so sehr und ich verstehe einfach nicht, warum er nicht locker lässt. Oder hat Gabriel ihm nichts gesagt? Oh Gott.

Mein Herz klopft rasend schnell, doch ich will es hier und jetzt beenden. Ich muss ihn vergessen und das geht nur, wenn er mich in Ruhe lässt.
Ich kneife meine Augen zusammen und sage: „Ich habe mit deinem Bruder geschlafen."
So, jetzt weiß er es. Er kann gehen und ich kann endlich versuchen, ihn und Gabriel aus meinem Gedächtnis zu löschen.

„Ich weiß," höre ich stattdessen und öffne meine Augen. Noch immer steht er da und sieht mich an. Er weiß es und ist immer noch hier. Weiß Gabriel auch von ihm und mir?
Als hätte Matthew meine stille Frage gehört, nickt er und sagt nur: „Gabriel weiß es auch."
„Warum bist du dann noch hier?" frage ich verzweifelt, denn ich verstehe es nicht.

Vorsichtig macht Matthew einen Schritt auf mich zu und nimmt meine Hand. „Weil du mir nicht mehr aus dem Kopf gehst, Joshua. Und Gabriel auch nicht. Und du konntest nichts dafür. Darum würden wir gern mit dir reden."

Dreisamkeit | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt