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Dienstagmorgen werde ich vom Klingeln meines Telefons wach. Meine erste Vorlesung beginnt erst um zehn Uhr und ich bin froh, endlich wieder in meinem eigenen Bett schlafen zu können.
Colin und Julia haben ihre Treffen nun vorerst auf Julias Zimmer verlegt, überlegen aber mittlerweile schon, ob sie sich gemeinsam eine Wohnung in Campusnähe leisten können. Ich freue mich wirklich für die beiden, aber ich freue mich gerade noch mehr, meine Ruhe zu haben.

Seit Gabriel am Samstagmorgen vor mir davon gerannt ist, habe ich nichts von den Zwillingen gehört. Ich sehe mehrmals täglich heimlich in die Jogama-Gruppe, aber niemand schreibt oder hat sie verlassen. Erwarten sie von mir, dass ich sie verlasse? Ich weiß, ich sollte, aber ich weiß auch, dass Gabriel erwartet, dass ich es Matthew sage.

Was sage? Dass ich es nicht ertragen kann, dass er mich plötzlich nicht mal mehr ansehen kann? Ich habe die vergangenen Tage an nichts anderes denken können und mir ist eine Sache klar geworden: Als er mich gefragt hat, ob ich mich entschieden habe, habe ich verneint. Doch in Wahrheit habe ich schon längst eine Entscheidung getroffen und ich bin sicher, sie würde ihm nicht gefallen.

Ich beantworte den Anruf verschlafen und höre die Stimme von Miss Whitaker.
„Joshua, sitzt du?" fragt sie mich.
„Nein," stöhne ich. „Ich liege, weil ich noch mindestens zwanzig Minuten schlafen könnte."
„Gleich nicht mehr."
„Wieso? Warum rufen Sie mich überhaupt so früh an?"
„Hast du deine E-Mails schon gecheckt?"
„Ja, vorhin als ich geschlafen habe. Natürlich nicht," maule ich. Mein Gehirn scheint noch nicht ganz hochgefahren zu sein, denn normalerweise bin ich nicht so frech zu meiner Musiklehrerin.

„Du bist drin."
„Wo?"
„Im Orchester."
Augenblicklich sitze ich kerzengerade im Bett. „Was?"
„Sie haben heute früh die Zusage geschickt. Es ist das dritte Cello geworden, aber du hast einen festen Platz. Am Donnerstag ist die erste Probe."
„Sie verarschen mich, Miss Whitaker."
Sie lacht am anderen Ende und antwortet dann: „Ich schiebe deine Unverschämtheit jetzt mal auf deine Müdigkeit, Joshua. Aber nein, ich verarsche dich nicht. Ich bin unsagbar stolz auf dich."

Ich bin sprachlos. Stolz und sprachlos. „D-Danke, Miss Whitaker," stammele ich und lege auf. Ich könnte einen Freudentanz vollführen und würde am liebsten der ganzen Welt verkünden, dass ich einen Platz im National Symphony Orchestra habe, aber eigentlich fallen mir außer Miss Whitaker nur zwei Menschen ein, denen ich es gern sagen würde.

Nur kann ich es ihnen nicht sagen und das gibt meiner Freude einen Dämpfer. Ich seufze und checke meine E-Mails. Tatsächlich habe ich die Bestätigung direkt auf meinem Handy und ich lächele stolz vor mich hin. Meine Mom wäre so glücklich und so stolz auf mich. Sie hat es immer gesagt und ich wünschte, ich könnte zumindest ihr sagen, dass sie Recht hatte.

Am Donnerstag stehe ich mit meinem Cello und etwas schwitzigen Händen vor der Tür des Orchesters und atme noch einmal tief durch. Miss Whitaker und der Dekan der Uni haben mir noch einmal persönlich zu meiner Anstellung gratuliert und ihren Stolz darüber zum Ausdruck gebracht. Mein Stipendium bis zum Ende meines Studiums ist damit wohl garantiert.
Dennoch kann ich mich nur mäßig freuen, denn immer wieder wandern meine Gedanken zurück zu den Zwillingen und ich frage mich, was sie wohl machen. Ob sie an mich denken.

Ich schüttele kurz meinen Kopf und betrete dann den Probenraum. Die Cellisten proben alle gemeinsam und so sind wir nur fünf Leute plus einem Dirigenten, der sich als Mr. Rogers bei mir vorstellt. Alle sind sehr freundlich, aber ähnlich wie ich sehr auf die Musik fixiert und so wird kaum gesprochen und die meiste Zeit konzentrieren wir uns alle nur auf unsere Instrumente.

Als ich drei Stunden später wieder auf dem Heimweg bin, piept mein Handy und ich habe eine Nachricht von Colin.

Colin

Alter, du bist
berühmt.

Hä? Wie kommst du
darauf?

Hast du mal in die
heutige Zeitung
geschaut?

Hast du mich schon mal
Zeitung lesen gesehen?

Moment..

Es folgt ein Screenshot eines Artikels aus der aktuellen Tageszeitung.

Junges Cellotalent bekommt vor Abschluss seines Studiums bereits Anstellung beim National Symphony Orchestra

Es handelt sich offenbar um einen Artikel über mich, in dem auch Miss Whitaker und der Dekan zitiert werden. Was mich an diesem Artikel jedoch am meisten verblüfft, ist das Foto, das direkt unter der Überschrift zu sehen ist.
Es ist schwarz-weiß und zeigt mich im Scheinwerferlicht der Bühne. Meine Augen sind geschlossen und mein Gesichtsausdruck so voller Leidenschaft, als würde ich nur für das Cello leben.

Im Grunde zeigt es genau das, was ich immer beim Spielen empfinde und ich bin erstaunt, dass ein Foto exakt dieses Gefühl transportieren kann. Als ich auf die Quelle schaue, stockt mir der Atem.

Foto: M. Parker

Sofort zieht sich meine Brust wieder zusammen. Natürlich, er hatte gesagt, dass er Fotos gemacht hat, aber es ändert nichts daran, dass ich augenblicklich wieder an diesen Abend zurückdenken muss. Bei meinem Auftritt dachte ich noch, alles sei in Ordnung. Ich sperre den Bildschirm mein Handy schnell, damit ich das Bild nicht länger sehe und gehe nach Hause.

Am Freitagabend sitze ich auf meinem Bett und spiele Cello. Colin kommt herein und bleibt vor mir stehen. „Aufhören," sagt er nur.
Verwundert blicke ich auf. „Was?"
„Aufhören. Wir gehen jetzt raus."
Ich schüttele den Kopf und setze den Bogen wieder an. „Ich möchte nicht raus."
„Das ist mir klar. Aber es ist mir auch egal. Wir feiern heute dein Engagement beim Orchester. Julia hat auch ihre Mitbewohnerin Hanna überredet, mitzukommen."
Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. „Und warum sollte sie das tun?"
„Weil du mal etwas Ablenkung brauchst, Josh," erklärt mein Mitbewohner.

Allmählich werde ich wütend. Was fällt ihm ein?
„Ich weiß deinen Versuch sehr zu schätzen, aber nein danke, Colin," knirsche ich.
„Das war keine Bitte, Joshua."
Wird er jetzt mutig, weil er eine Freundin hat?
„Hör zu," sage ich angestrengt ruhig. „Es freut mich für dich, dass du jetzt regelmäßigen Sex hast. Und wenn ich Lust auf ‚Ablenkung' habe, kann ich mich sehr gut allein darum kümmern. Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben, also hör einfach auf, dich in mein Leben einzumischen, okay?"
Er schnappt überrascht nach Luft, scheint aber nicht zu wissen, was er mir antworten soll.
„Dann ertrink doch in deinem beschissenen Selbstmitleid," faucht er und stürmt nach draußen.

Ich sitze einfach nur da und starre vor mich hin. Ist das so? Bemitleide ich mich selbst? Vielleicht hat Colin Recht und ich sollte versuchen, mich abzulenken. Aber ich kann nicht. Ich weiß, sobald ich ins ‚Spartakus' gehe, werde ich nur nach schwarzen, wuscheligen Haaren suchen. Andererseits könnte ich mich auch richtig betrinken und sie damit vergessen.

Ich stehe auf und stelle mein Cello zur Seite. Dann sehe ich in den kleinen Spiegel an der Wand und sage zu den traurigen braunen Augen, die mir entgegen schauen: „Okay, wir schießen uns heute richtig ab und wir denken nicht an die Zwillinge."
Die Augen scheinen mir nicht glauben zu wollen, aber mein Entschluss steht fest. Schnell schnappe ich mir meinen Kulturbeutel und mein Handtuch.
Ich öffne die Zimmertür und vor mir sehe ich eine Hand, die zum Klopfen gehoben ist, blaue Augen, die mich überrascht ansehen und schwarze, wuschelige Haare.

Dreisamkeit | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt