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Am nächsten Morgen stehe ich direkt kurz nach halb acht mit dem Weckerklingeln auf und ziehe meine Laufsachen an. Ich jogge durch den Campuspark und warte nervös darauf, dass Gabriel auftaucht. Als er eine Stunde später immer noch nicht zu sehen ist, beschließe ich, zur Wohnung der Zwillinge zu laufen.
Das, was ich zu sagen habe, kann Matthew genauso gut hören.

Auf halben Weg, ungefähr auf der Höhe, wo ich Matthew gestern Abend auf der Treppe zurückließ, kommt Gabriel mir entgegengelaufen. Er hat Kopfhörer in den Ohren und bemerkt mich erst kurz bevor er mich fast umrennt.
„Oh," macht er überrascht. „Joshua." Seine langen Finger ziehen seine Kopfhörer aus seinen Ohren und ich höre die laute Musik, die aus ihnen dröhnt.
„Hallo Gabriel," sage ich ernst. „Können wir reden?"

Er schluckt und kurz befürchte ich, dass er mich zurückweist, doch er nickt zögerlich und setzt sich auf die Treppenstufe vor dem Hauseingang, vor dem wir stehen. Was haben diese Männer mit Treppenstufen?
„Was gibt's?" fragt er und ich bemerke, dass es locker klingen soll, er aber alles andere als locker ist.
„Ich schulde dir noch eine Erklärung," sage ich.
Er hebt eine Augenbraue und sieht mich erwartungsvoll an.

Zögerlich stehe ich vor ihm und weiß nicht, wie ich anfangen soll. „Es tut mir leid, dass ich mich nicht mehr gemeldet habe," beginne ich. „Weißt du, ich war anfangs so zögerlich mit dieser.. Vereinbarung, weil ich Angst hatte."
„Angst wovor?" fragt Gabriel.
„Du und Matt, ihr habt so ein wunderbares Verhältnis zueinander. Ich wollte nicht dazwischen kommen und das gefährden."
„Aber das tust du doch nicht."
„Doch, Gabriel. Genau das ist passiert. Und darum ist es besser, wenn ich gehe."
Er runzelt nachdenklich die Stirn.

„Du redest kaum noch mit deinem Bruder und das, obwohl ihr früher über alles gesprochen habt," fahre ich fort. „Und das alles nur für einen Typen. Das ist es nicht wert."
„Und darum gehst du?"
„Ja. Es ist besser so."
„Hast du dich denn entschieden?"
„Was?"
„Wir hatten ausgemacht, dass wir dir die Entscheidung überlassen. Also, hast du eine getroffen?"
Ist das sein Ernst?

„Was tut das zur Sache, Gabriel? Es ist vollkommen unerheblich, wie ich mich entschieden hätte," seufze ich. Diese ganze Sache ermüdet mich so.
„Ist es nicht," murmelt er und fährt sich mit den Händen durch seine Haare. „Joshua, es war toll und es hat Spaß gemacht und ich mag dich unglaublich gern."
„Ich weiß," flüstere ich.
„Aber Matt ist in dich verliebt."
Ungläubig starre ich ihn an. „Was?" Meine Frage ist nur ein tonloses Flüstern.
„Er hat es nicht direkt gesagt, aber ich merke es an seinem Verhalten. Und ich weiß, er will mich nicht verletzen oder deine Entscheidung beeinflussen, darum zieht er sich lieber zurück. So war er schon immer," erklärt Gabriel ruhig.

Ich starre ihn an und murmele dann: „Er will meine Entscheidung nicht beeinflussen?" Ich lache trocken. „Oh, du irrst dich, Gabriel. Genau das hat er doch getan, noch viel mehr - er hat einfach für mich entschieden. Tut mir leid, ich kann das alles nicht mehr."
Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich um und laufe zurück zum Wohnheim. Gabriel folgt mir nicht und ich bin ihm dankbar dafür.

Das gesamte Wochenende verbringe ich mit Celloproben und in meinem Bett. Ich habe keine Lust mit irgendjemandem zu reden und zum Glück ist Colin noch immer sauer auf mich und hat sich zu Julia verzogen.
Samstagabend sehe ich nach gefühlten Ewigkeiten auf mein Handy und bereue es sofort.

Jogama

Gabriel hat die Gruppe verlassen.

Matt hat die Gruppe verlassen.

Wütend werfe ich mein Handy auf mein Bett und wische trotzig diese blöde Träne weg, die über meine Wange rollt. Jetzt bin ich allein in meiner Dreier-Gruppe.

Die Wochen schleichen dahin. Ich spiele Cello, ich sitze in Vorlesungen, ich schlafe kaum. Ich fühle mich wie eine der Fotografien, die Matthew von mir gemacht hat. Farblos. Der Unterschied ist, dass ich auf allen seinen Fotos glücklich bin.
Ein Mädchen aus dem Orchester, Chelsea, versucht nach jeder Probe, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Sie ist nett und spielt unglaublich gut Klarinette, aber ich habe kein Interesse. Außer an Musik habe ich gerade an gar nichts Interesse.

Chelsea lässt nicht locker und an einem Donnerstag gebe ich schließlich nach und sage ihr zu, am nächsten Abend mit ihr auszugehen. Eigentlich ist es mir egal und vielleicht merkt sie dann, wie langweilig ich bin und hört auf, mich zu nerven.
Am Freitag style ich mich wie gewohnt und treffe mich dann mit Chelsea vor dem Orchestergebäude.
Sie trägt ein hautenges weinrotes Kleid und sieht für andere vermutlich atemberaubend aus. Ich lächele sie an und sage höflich: „Du siehst toll aus, Chelsea."
Sie umarmt mich und haucht mir einen Kuss auf die Wange. „Danke, Joshua. Du aber auch."

Ich zwinge mich zu einem weiteren Lächeln und biete ihr meinen Arm an, damit sie sich einhaken kann.
„Also, worauf hast du Lust?" frage ich.
„Auf tanzen. Kannst du tanzen? Ich wette, du bist ein hervorragender Tänzer, Joshua."
Ich zucke mit den Schultern. „Ich war schon eine Weile nicht mehr tanzen, aber okay." Hauptsache, der Abend ist bald vorbei.
„Super, ich kenne da einen tollen Laden. Das ‚Spartakus'. Warst du da schon mal?" plappert sie weiter.
Den Rest blende ich aus, denn augenblicklich zieht sich meine Brust wieder schmerzhaft zusammen, als ich an meine erste Begegnung mit Matthew denke.
Ich schlucke schwer und lasse mich von ihr zum Club ziehen, während ich mir selbst innerlich gut zurede, dass bestimmt keiner der Zwillinge dort sein wird. Das wäre ja wirklich ein dummer Zufall.

Im ‚Spartakus' ist es wie immer stickig und laut und ich bin froh, dass es so voll ist und ich zwischen all den Menschen untergehe. Ich bemühe mich, meinen Blick auf den Boden gerichtet zu halten, zu groß ist die Verführung, mich nach ihm umzusehen.
Chelsea zieht mich an die Bar, bestellt und ich lege zwei Scheine auf den Tresen.
Nachdem wir unsere Drinks geleert haben, zieht sie mich auf die Tanzfläche und versucht dabei, mich verführerisch anzuzwinkern. Ich kann nicht einmal mehr lächeln. Ich will nur weg von hier. Doch ich bin höflich, lege meine Hände auf ihre Hüften und wir beginnen zu tanzen.

Chelsea kann sich gut bewegen und schmiegt sich lasziv an mich, während sie in mein Ohr schnurrt: „Ich wusste doch, dass du mit diesen Hüften was drauf hast, Joshua."
Ich schließe meine Augen und versuche, den stechenden Geruch von ihrem Parfum auszublenden. Sie reibt sich weiter ungeniert an mir und irgendwann ertrage ich es nicht länger.
„Entschuldige mich bitte kurz, Chelsea," sage ich höflich und dränge mich in Richtung der Toiletten durch die tanzende Menge. Unbewusst sehe ich zur Bar und erblicke dunkle, wuschelige Haare. Allerdings sind Finger darin vergraben und als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass die Finger einem blonden Mann gehören, der sinnlich an dem Ohr unter den Wuschelhaaren knabbert.

Ich stürze förmlich die letzten Meter zur Toilette und drücke mich durch die Tür. Ich stütze mich auf das Waschbecken und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich muss hier raus. Sofort.

Dreisamkeit | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt