Eher nebenbei bemerkte ich, dass Sarah ungewöhnlich still war. So wie ich sie bis jetzt kennengelernt hatte, war sie eine von denen, die in jedem freien Moment über irgendetwas quatschte und eigentlich immer etwas mitzuteilen hatte.
Ist irgendwas?, fragte ich sie also. Dustin hatte sich für eine Weile verabschiedet, da er „Zeit mit Nele verbringen wollte" - ich hatte den Verdacht, dass er sich aufs Ohr hauen wollte - sodass er uns nicht belauschen konnte, wenn es zu Mädchengesprächen kam. Ich hoffte nur, dass sie und Austin keine Beziehungsprobleme hatten.
Ist das so offensichtlich?, erwiderte sie und lachte nervös.
Kommt drauf an, wem es auffällt, gab ich zurück.
Sie lachte. Hast Recht! Dustin würde es selbst dann nicht auffallen, wenn ich herzzerreißend schluchzen würde.
So schlimm?
Sie schüttelte den Kopf. Nein, eigentlich nicht. Ich mach mir nur Sorgen. Seit ... seit Mel's Tod hat sich so viel verändert. Ich hatte gehofft, dass es wieder besser werden würde, jetzt wo du da bist, aber irgendwie ... Mason ist immer noch gestresst, auch wenn er versucht es sich nicht anmerken zu lassen, Dustin ist noch genauso griesgrämig wie eh und je ...
Ach, den gibt's auch in freundlich?, fragte ich, einerseits, um ihre ernste Miene aufzulockern, andererseits, weil ich mich das wirklich fragte.
Ja, seine Glanztage hatte er mit Mel, da war er schon fast ein Gentleman. Wir lachten. Das klang ziemlich unglaubwürdig, aber wer weiß? Vielleicht war meine Schwester ja eine Wunderheilerin. Ihr Tod hat ihn fertig gemacht. Vor allem weil es Mord war. Ich glaub er will immer noch Rache. Eine Zeit lang hat er versucht, seine Trauer in Alkohol zu ertränken, aber wir haben rechtzeitig eingreifen können. Richtig erholt hat er sich trotzdem nie. Nele ist das einzige was ihn noch über Wasser hält. Austin rechnet jeden Moment mit einem Rückfall, was ich ihm echt nicht verdenken kann. Er ist Dustins bester Freund und hat ihn schon in schlechtesten Zeiten erlebt, aber das ... ich weiß nicht was ich machen würde, wenn Austin umkommen würde...
Eine Art schlechtes Gewissen durchströmte mich. Dustin tat mir leid. Er verhielt sich zwar mir gegenüber ununterbrochen wie ein Arschloch, aber er hatte doch irgendwie eine verkorkste Art von Grund dafür.
Dass Marcel Pauls kleinen Bruder Taylor umgebracht hat ... das ist doch total krass! Sarahs Stimme hallte laut in meinem Kopf. Sie war aufgebracht, verständlicherweise. Irgendwas läuft hier total schief. Tod ist generell schrecklich, aber in einem Rudel? Wir teilen unsere Leben miteinander, sind fast wie Geschwister! Marcel ist mit denen aufgewachsen! Ich verstehe einfach nicht, was ihn dazu bewegt haben kann.
Das versteht wohl keiner außer ihm selber, meinte ich leise. Ich konnte ihr nur zustimmen.
Vielleicht hat ihn jemand dazu angestiftet, überlegte Sarah. Und vielleicht hat Phillip Recht und das alles heute ist nur eine Falle.
Ich seufzte. Ich glaub' wir werden das noch früh genug erfahren.
Und ich hoffe wir werden es von den Jungs selber erfahren und nicht von irgendwelchen Polizisten, die ihre Leichen gefunden haben ... falls man sie überhaupt noch erkennen kann nachdem sie zerfleischt wurden!
Sarah! Sie überhörte mich und redete einfach weiter.
Oder was wenn wir davon gar nichts erfahren, weil alles still und heimlich abläuft? Ihre Leichen irgendwo vergraben, wo keiner sie findet, und wir suchen sie tagelang ohne Lebenszeichen und mit nur einer plötzlich endenden Spur ...
Sarah, verdammt!, unterbrach ich sie entsetzt und blieb stehen. Mal doch nicht gleich den Teufel an die Wand! Vielleicht ist es einfach nur ein Rudel auf Durchreise oder so!
Sie seufzte und blieb ebenfalls stehen. Aber was wenn nicht? Was wenn ...
Sarah, nein! Ich schüttelte schnaubend den Kopf. Denk am besten gar nicht drüber nach, sonst machst du uns alle noch vor morgen früh reif für die Klapse.
Sie grinste. Wahrscheinlich hast du Recht und ich übertreibe nur.
Nicht nur wahrscheinlich, ich hab Recht! Wir setzten uns wieder in Bewegung. Sie kichernd, ich kopfschüttelnd. Dass sie Austin noch nicht in den Wahnsinn getrieben hatte, fehlte noch.
Die nächsten Stunden bis acht Uhr patrouillierten wir ohne besondere Vorkommnisse und redeten über belanglose Dinge. Da Dustin versprochen hatte mich um diese Zeit abzulösen, verwandelte ich mich in der Nähe der Hütte, zog mich an und machte mir etwas zu essen, während ich mit Michelle telefonierte. Meine Schwester beschwerte sich am laufenden Band und es brauchte drei Bitten bis sie mir Mam zurück an den Apparat brachte, damit ich auflegen konnte.
Dustin musste schon eine Weile mit der schlafenden Nele im Türrahmen gestanden haben, aber ich bemerkte sie erst als ich mein Handy weggelegt, mein Essen auf einen Teller geschaufelt und mich zum Tisch umgedreht hatte.
„Mensch Dustin! Kannst du mich nicht warnen?"
„Sh!", fuhr er mich an. „Sie schläft!"
„Das sehe ich!", feuerte ich zurück. „Allerdings wäre sie wach geworden wenn ich den Teller hätte fallen lassen, also sei froh, dass ich nicht so schreckhaft bin."
Er zuckte uninteressiert mit den Schultern. „Vielleicht solltest du dir angewöhnen die Tür abzuschließen."
„Vielleicht solltest du dir angewöhnen zu klopfen!" Und - Überraschung! - schon wieder hatte er mich innerhalb von einer Minute auf die Palme gebracht. Super! Wie sollte ich denn unsere gemeinsame Patrouille später überleben?
Genervt nahm ich ihm Nele ab, brachte sie in mein Zimmer und legte sie in das Kinderbett, dass Mason wohl während meiner Abwesenheit aufgebaut haben musste. Sie schlief wie ein Stein, aber vorsichtshalber ließ ich wieder die kleine geblümte Lampe an.
Dustin stand immer noch in der Tür und ich musste ihn gewaltsam zur Seite schieben, damit ich aus dem Zimmer in den Flur treten konnte. „Wird es nicht langsam Zeit, dass du Sarah unterstützt?"
Er schien mich nicht zu hören. Sein Blick war in das Zimmer gerichtet.
„Ich pass schon auf Nele auf, keine Sorge", setzte ich hinzu. Immer noch erwiderte er nichts, sondern guckte starr in die andere Richtung. Ich schürzte die Lippen. Was sollte der Quatsch? War ignorieren seine neue Taktik?
„Dustin?" Mein Tonfall nahm wieder etwas Genervtes an sich. Dann, und ich gebe das nur ungern zu, wollte ich meinen Kopf am liebsten gegen den Türrahmen hauen. Sein Kiefer war angespannt und sein Blick war nicht etwa auf Nele in ihrem Kinderbett gerichtet, sondern auf die andere Seite des Raumes, mit dem Bett und dem bedürftigen Schreibtisch. Mir fiel wieder eine, dass das mal Melly's Zimmer gewesen war.
Mich unwohl fühlend scharrte ich mit den Schuhen über den Holzboden und räusperte mich geräuschvoll. Endlich erwachte er aus seiner Starre und sah mich an. Sein intensiver Blick huschte über mein Gesicht. Ich meinte eine Spur Verletzlichkeit zu erkennen. Nach einer Weile wurde mir das Starren unangenehm und ich wandte den Blick an.
Dustin ließ ein Schnauben hören. Beim erneuten hinsehen las ich in seinem Gesichtsausdruck nichts als unterdrückter Wut und Trauer. Er stürmte an mir vorbei, während ich regungslos im Flur stehen blieb. Die Tür knallte hinter ihm lautstark ins Schloss.
Tja, was sollte ich dazu sagen? Ich war nun Mal nicht Melly.
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SheWolf || GER
Werewolf// NICHT ÜBERARBEITET // Sally führt ein eher schlichtes Leben mit Adoptiveltern und einer nervigen kleinen Schwester. Zufällig findet sie auf einer Klassenfahrt heraus, dass sie eine Zwillingsschwester hat - beziehungsweise hatte! Sie starb kurz vo...