Kapitel 7

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Wandern, schlafen, wandern, essen, wandern, trinken, wieder schlafen, wandern, … Die Tage wurden länger, so wie auch die Wanderabschnitte sich ausweiteten und die Ruhephasen immer kürzer wurden. Je näher er seinem Ziel kam, desto weniger gönnte er sich eine Pause. Ghost wollte so schnell wie möglich endlich an seinem Ziel ankommen, dem Ort, der die Antworten auf seine Fragen bereithalten sollte.
Sein Essen ging langsam zur Neige. Die Erschöpfung nahm die Überhand. Sein Arm juckte und der Schmerz hatte wieder begonnen. „Ach ja“, holte er sich wieder in Erinnerung, „da war ja noch was.“ Ghost hatte seinen Stumpf vor ein paar Tagen gewaschen und neu eingebunden. Dennoch benötigte er dringend einen Arzt, der eine kompetente Maßnahme ergreifen konnte. Er hatte oft darüber nachgedacht. Schlussendlich kam er aber immer nur auf dieselbe Lösung. Er musste Dr. Sullivan aufsuchen.
Sie war eine Frau, die ihm und seiner Familie schon oft geholfen hatte. Eine Person, die er sehr schätzte und nie groß Fragen gestellt hatte bezüglich seiner Verletzungen. Ebenfalls würde sie nie Etwas ausplaudern. Die ärztliche Schweigepflicht nahm sie sehr ernst. Zu ihr konnte er ein gewisses Maß an Vertrauen riskieren.
Ihre Praxis lag genau auf dem Weg. Eigentlich sogar nur außerhalb von Pestileia. Von ihr aus wäre es dann nur noch einen Katzensprung bis zu seinem Zielort.
Er riss sich noch einmal zusammen, wild entschlossen seine Reise so schnell es ging hinter sich zu bringen und nicht auf seine strapazierten Muskeln zu hören, die nach Rast schrien, seinen Magen zu vernachlässigen, der nach Essen jammerte und den Zustand seines Armes zu ignorieren, der die Schmerzen nicht mehr auszuhalten vermochte.

Die Praxis war seit seinem letzten Besuch ziemlich heruntergekommen. Die Fassade bröckelte bereits, die Fenster waren geschlossen und der Dreck war sogar zu riechen. Das einzige Anzeichen, dass noch Jemand hier war, war das kleine Schild an der Haupteingangstür, auf der „Geöffnet“ stand.
Ghost näherte sich der Tür. Das „Arztpraxis“-Schild quietschte im Wind mit.
Der Faunus ergriff die Türklinke, klopfte drei Mal sanft und trat ein.
Der Innenbereich war stickig und grau, jedoch in einem viel besseren Zustand als der Außenbereich. In den Gängen lagen haufenweise Kisten herum, vollgestopft mit allem Möglichen.
Irgendetwas stimmte nicht. Was war hier nur geschehen?
Im nächsten Augenblick trat eine junge Dame um die Ecke in Freizeitkleidung, direkt vor Ghosts Nase. Dieser erschrak und legte seine Hand schon auf seine Waffe. Die Frau vor ihm schrie auf, duckte sich und hielt sich ihre Ohren zu. Ghost brauchte einen Moment, bis er Dr. Sullivan erkannte.
Rasch ließ er seine Hand wieder los und bückte sich zu ihr hinunter, um sie zu beruhigen. Als er seine Hand auf ihren Rücken legte, öffnete diese die Augen und sah in die von Ghost. Die Erkenntnis traf sie und der Schock wurde von der Überraschung und Freude verdrängt.
Sie sprang ihn an und umarmte ihn. Tränen liefen ihr über die Wangen und befeuchteten Ghosts Kleider. „Du lebst“, schluchzte sie, „Gott sei Dank.“
„Es ist Alles gut, mach dir keine Sorgen“, tröstete er sie. Er war froh, dass sie noch hier war. Dennoch zeigte ihre Reaktion, dass seine schlimmsten Befürchtungen tatsächlich eingetroffen sind. Er wollte sie danach fragen, zögerte jedoch und wollte sie erst einmal beruhigen.

Nach kurzer Zeit hatte sich die Ärztin wieder aufgerafft und sich vielmals für ihr Verhalten entschuldigt. Ghost machte sich aber keine Gedanken deswegen. Sie war ein sehr guter Doktor, doch war sie immer noch jung und musste alle möglichen Erfahrungen außerhalb ihrer Praxis sammeln.
Ihr Mentor war ein alter bettlägeriger Mann gewesen, der ihr die Sachen, die sie wissen musste, von seinem Bett aus beigebracht hatte. Den Umgang und die praktische Erfahrung hatte sie allerdings selbst erlernen müssen. Vor einem Jahr war ihr Mentor aber verstorben. Seither lebte sie allein in diesem Haus und stützte sich auf ihre eigenen Lehren.
Ghost hatte enorme Hochachtung vor ihr. Denn trotz ihres Alters hatte sie ihn schon zweimal vor dem Tode bewahrt.
Ghost riss sich aus seinen Gedanken und sprach sie an: „Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Allerdings bedarf ich wieder einmal mehr deiner Hilfe…“ Er blickte auf seinen Stumpf hinunter. Dr. Sullivan folgte seinem Blick. Ein Blick des Verstehens spiegelte sich in ihren Augen und ihre Züge wurden ruhig und kalkulierend, wie immer, wenn sie an der Arbeit war. „Natürlich. Folg mir“, wies sie ihn an. Sie drängten sich durch vollgestopfte Gänge bis sie am Ende des Flurs zu einem kleinen Zimmer mit Operationstisch gelangten. Ghost blickte sie misstrauisch an. Dabei bemerkte er wieder ihren Schlangenschwanz, der aus ihrer Hose hervorkam.
Sie drehte sich zu ihm um und wies ihn an sein Oberteil auszuziehen und sich auf den Tisch zu setzen. Mürrisch tat Ghost, wie ihm geheißen. Die Ärztin kleidete sich kurz um, um hygienischer arbeiten zu können und wusch sich gründlich die Hände. Als beide bereit waren, begann sie langsam Ghosts Verband abzurollen.
Als der Stumpf zum Vorschein kam, verzog sie keine Miene, sondern begann die Wunde zu analysieren.
Ghost ertrug die Stille nicht mehr. Er wollte sie durchbrechen und fragen, was genau hier los war, doch wusste er genau, dass er somit nur Sullivan aus dem Konzept bringen würde. Sie brauchte ihre Ruhe und koppelte sich dabei von allen Emotionen und Nebengedanken ab. Dafür garantierte es eine sehr detaillierte Bestandsaufnahme der Situation.
Nach ein paar Augenblicken seufzte sie. „Ich bin froh, dass du mich aufgesucht hast. Ich denke nicht, dass du sehr viel weiter gekommen wärst ohne ärztliche Hilfe.“
Das hatte Ghost bereits geahnt. „Aber du kriegst das hier hin, oder?“
Sullivan blickte auf „Was? Achso, ja, ja. Das schaff ich schon. Ich versuche gerade nur einzuschätzen, wie schwer die innerlichen Schäden sind.“
Ghost stutze: „Innerliche Schäden?“
Die Ärztin nickte. „Ich kann es nicht sicher sagen, aber du besitzt bestimmt noch ein paar Knochensplitter, die sich in dein Fleisch gebohrt haben. Und wenn man den Grad der Entzündung des Gewebes betrachtet, ist auch mit einer Blutvergiftung zu rechnen.“
„…Blutvergiftung?“ Ghost wurde ein wenig schwindlig. Eigentlich hatte er schon Schlimmeres gehabt. Das sollte ihn nicht mehr umhauen. Doch es aus ihrem Mund zu hören, dass, wenn er seinen Stolz nicht geschluckt und das Erreichen seines Ziels nicht ein wenig nach hinten verschoben hätte, schien doch nicht spurlos an ihm vorbei zu gehen. Oder vielleicht war es doch nur seine Psyche?
Dr. Sullivan ging zu ihren Apparaturen hinüber, schaute auf die Uhr und kam dann zu Ghost zurück.
„Du vertraust mir doch, oder?“, fragte sie ihn zögerlich. Sie wich immer wieder seinem eigenen Blick aus während sie auf die Antwort wartete.
Ghost brauchte nicht allzu lange darüber nachzudenken. Er wusste, es war töricht jemandem blind zu vertrauen, doch es war seine einzige Chance. „Ja, ich vertraue dir. Du hast mir schon oft gute Dienste erwiesen.“
Dr. Sullivan blickte ihm in die Augen und begann voller Freude zu lächeln. „Danke“, flüsterte sie und rammte Ghost eine Spritze ins Bein.
Bevor Ghost es realisieren konnte, war er schon ins tiefe Dunkel der Träume abgetaucht.

A Faunus TaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt