Kapitel 10

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Die Wächter grüßten sie, als sie die Dorfgrenze passierten. Casey drehte ihren Kopf in alle Richtungen, um ihre Heimat vollkommen erfassen zu können. Ihr Hundeschwanz schien nicht mehr mit Wedeln aufhören zu wollen. Ihre Eltern mussten erneut ihr Kichern verkneifen bei dem Anblick ihrer aufgewühlten Tochter.
Der Fahrer geleitete sie in ihrem Karren durch Pestileia. Das Dorf hatte sich gut gemacht. Die Häuser schienen gut gepflegt und die Gassen, durch die sie fuhren, sauber gefegt. Viele Passanten drängten sich um Marktstände. Einige erkannten die Familie und winkten ihnen fröhlich zu. Ghost winkte ein Paaren zurück, wandte sich aber bald wieder ab. Er mochte die große Aufmerksamkeit nicht. Seine Frau hatte allerdings keine Probleme damit.
Als sie endlich vor einem Haus zum Stehen kamen, sprang Casey schon aus dem Wagen und rannte durch die Tür hindurch. Man konnte sie von außen hören, wie sie rumtollte und Freudenschreie von sich gab.
Ghost sah sich kurz das Gebäude an, in dem er so viel Zeit verbracht hatte. Dennoch hatte die Pflicht Vorrang. Er drehte sich ab, wurde allerdings am Handgelenk von Livia festgehalten. Ghost sah ihr verwirrt in die Augen. Sie aber hatte ihren Blick immer noch auf das Haus gerichtet. „Musst du wirklich zu ihr gehen? Du weißt, dass ich nicht viel davon halte…“
Ghost seufzte. „Leider ist es nötig. Ich möchte nur Etwas sicherstellen.“
„Was denn sicherstellen?“, hakte seine Frau nach.
Ghost brauchte einen Moment. Die Antwort wird ihr nicht gefallen. „Das kann ich dir nicht sagen. Es tut mir leid, Schatz.“
Livia zuckte kurz zusammen. „Du weißt, dass ich sie immer gebilligt habe, deine Geheimnisse und deine Taten. Du weißt auch, dass ich immer hinter dir stehe. Nur verstehe ich jetzt einige deiner Aktionen überhaupt nicht mehr. Ich kriege wirklich Angst. Und du sagst mir nicht einmal, was los ist? In Allem Überfluss musst du auch gleich bei unserer Ankunft mit „Ihr“ sprechen?“
Stille.
Beide lauschten dem Wind und hofften, dass er die Anspannung aus der Luft holen könne. Doch es blieb ungeschehen. Ghost sprach erneut: „Es tut mir leid, Livia. Ich kann es dir nicht sagen. Natürlich weiß ich, was du von Labartu hältst. Dennoch muss ich zu ihr.“
Ghost lockerte den Griff seiner Frau. Sie leistete keinen Widerstand und ließ es geschehen. Sie blieb stehen und blickte traurig ihrem Ehemann hinterher, bis er um eine Ecke gebogen war.
Ghost wusste, dass sich Livia Schlimmes zusammenreimte. Und er wusste auch, dass sie skeptisch gegenüber Labartu war.
Dieses Thema hatten sie beide schon viele Male besprochen. Nicht nur, dass Labartu als Alchemistin und Hexe bekannt war, sondern auch ihre Stellung unter den Dorfanführern hatten in Livia Unbehagen ausgelöst. Zu allem Überfluss waren da noch die Gefühle, die Ghost früher für diesen Faunus gehegt hatte. Livia hatte also mehr als genug Grund Labartu nicht zu mögen.
Und er selbst als ihr Ehemann hatte auch noch andauernd Kontakt mit dieser fragwürdigen Person.
Welche normale Ehefrau würde sich da keine Gedanken machen?
Seine Füße kannten den Weg zum Versammlungsplatz immer noch. Ohne auf die Straße zu achten, brachten ihn seine Beine automatisch dorthin. Wie früher auch schon, war um diese Uhrzeit Hochbetrieb auf dem großen Platz. Die Marktstände verkauften alle möglichen Dinge, von Lebensmittel zu Spielzeug zu echten Waffen etc.
Ghost bahnte sich seinen Weg zwischen den Verkäufern und den Käufern hindurch. Mehrfach wurde er von den Händlern angesprochen, doch er wimmelte sie mit einer Handbewegung ab. Es wurden Verkaufsargumente über den ganzen Platz gerufen und der Lärmpegel nahm durch die heftigen Diskussionen und Feilschereien nur noch mehr zu.
Ghost konnte sich bis zum Rathaus durchquetschen, ohne ein weiteres Mal erkannt zu werden. Das Gebäude war schlicht gestaltet und nur wenig durch Schnitzereien an den Ecken verziert. Das Haus bestand fast ausschließlich aus Holz und besaß zwei Stockwerke. Dabei war der obere Stock nur für private Unterkünfte der Dorfanführer und somit für das gemeine Volk unzugänglich. Das Erdgeschoss bestand aus einem großen Saal, bei dem Verhandlungen und Debatten vonstattengingen, besaß aber auch ein paar kleinere Räume für private Angelegenheiten zwischen den Bewohnern und den Anführern.
Ghost stieg die kurze Treppe hoch und trat durch die große Holztür. Der Empfang war hell durch einen tiefen Kronleuchter ausgeleuchtet. Gegenüber von ihm stand ein Empfang und eine Katzenfaunus mit einem langen Schwanz begrüßte ihn: „Oh, du bist wieder zurück? Es freut mich sehr dich endlich wieder zu sehen.“
Ghost grinste: „Hey, Kelly. Wie geht es dir?“
Die Freude war ihr ins Gesicht geschrieben. „Danke, sehr gut, um ehrlich zu sein. Wie du siehst, haben sie mich endlich als Lehrling im Rathaus aufgenommen. Mit ein bisschen Glück werde ich schon bald bei den wichtigen Debatten mitbestimmen können.“
„Das freut mich für dich. Ich vertraue dir, dass du die Bewohner dieses Dorfes gut vertreten wirst“, ermutigte Ghost sie. Dies schien Kelly noch mehr zu gefallen.
„Danke. Ich werde mein Bestes geben. Und wie ist es dir ergangen? Wie geht’s Livia und Casey?“
„Uns geht es ganz gut. Naja, wir haben Pestileia ein wenig vermisst und dachten, wir wollen uns wieder für eine Zeit hier niederlassen“, erzählte Ghost Kelly. Sie nickte um ihr Verständnis zu zeigen: „Das ist nachvollziehbar. Schließlich habt ihr euer ganzes Leben hier verbracht.“
Ghost grinste: „Das stimmt. Jedenfalls, kannst du bitte für mich Labartu informieren, dass ich zurück bin und mit ihr reden muss?“
Kellys Grinsen wurde schwächer: „Tut mir leid, aber sie ist momentan außerhalb des Dorfes.“

Die Kälte des Wassers weckte ihn aus seinem Tiefschlaf. Die Flüssigkeit tropfte seinen Kopf hinunter und durchnässte seine Kleidung. Erst als er die paar Tropfen aus seinen Augen wischen wollte, bemerkte er, dass sie hinter ihm zusammengebunden waren. Die Lehne des Stuhls, an den sie ihn gefesselt hatten, drückte ihm die Schultern ein.
Ghost schüttelte den Kopf, um das überflüssige Wasser aus dem Gesicht zu kriegen. Wer auch immer ihm diesen Eimer Wasser ins Gesicht geworfen hatte, stand in der Dunkelheit. Nichts war zu erkennen. Nur eine einzige Lampe erhellte den Boden direkt vor ihm.
Ghost gegenüber konnte er schemenhaft eine Gestalt erkennen, die ebenfalls auf einem Stuhl zu sitzen schien. Dieser lachte.
„Er ist endlich aufgewacht Jungs. Wollen wir anfangen? Schließlich habe ich später noch ein Date.“
Ghost hustete: „Wer seid ihr?“ Durch seine Augenlieder blinzelnd versuchte er mehr ausmachen zu können.
„Wer wir sind? Wie wäre es damit, du verratest uns, wer du bist und wir geben uns dir zu erkennen. Deal?“
Ghost begann zu lachen. „Nur über meine Leiche!“
Die Person vor ihm beugte sich vor. Sein Gesicht wurde von den Lichtstrahlen erhellt. Der Mann nahm sich die Zigarre aus dem Mund. Sein Hut konnte sein orangenes Haar nur bis zu einem gewissen Grad verdecken.
„Das lässt sich arrangieren.“

A Faunus TaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt