Kapitel 17

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Das Gasthaus „Wankender Eber“ war einen halben Tagesmarsch entfernt gewesen. Es wurde nicht oft besucht. Der Wirt war ein sehr schäbiger Faunus gewesen und wollte Ghost zuerst noch eine Stunde warten lassen. Nachdem er aber das Abzeichen gesehen hatte, hatte dieser sich entschuldigt und wurde beinahe unterwürfig.
Was man gegen Harry auch sagen wollte, man konnte nicht abstreiten, dass er einen großen Eindruck bei den Faunus hinterlassen hatte.
Der Wirt, ein Eber-Faunus, hatte sich zusammen mit seiner Frau um ihn gekümmert, ihn aufgepäppelt und notdürftig die Wunden versorgt. Er hatte sie gefragt, ob sie Gerüchte über die Umgebung gehört hätten. Egal über was sie redeten, es brachte ihn kein bisschen weiter. Was in ihm aber das Interesse geweckt hatte, war die Tatsache, dass Harry ihnen einmal geholfen hatte Menschen zu vertreiben, die gewaltsam ihr Gasthaus übernehmen wollten. Natürlich hatte eine Gruppe der White Fang mitgeholfen, doch war Harry derjenige gewesen, der Ihnen eine Entschädigung gezahlt hatte. Sie konnten sich damals nicht revanchieren, weshalb sie ihm Hilfe versprochen hatten, sobald er welche benötigte.
Ghost kannte seinen Bruder nicht auf diese Weise. Er war hin und her gerissen darüber, ob er wütend darüber sein sollte, dass Harry dasselbe seiner eigenen Familie verwehrt hatte, oder ob er froh sein sollte, dass diese Seite von Harry überhaupt existierte. Nichts desto trotz hatte sein Bruder ihn gerettet und hierhergeführt.
Einen Tag später hatte er den „Wankenden Eber“ verlassen und sich wieder auf die Reise gemacht. Er hatte sich kurz und knapp erklären lassen, wie er am besten nach Pestileia kommen konnte. Er hatte sich bei seinen Gastgebern vielmals für ihre Großzügigkeit bedankt und war daraufhin aufgebrochen. Der Marsch zurück würde keinen ganzen Tag dauern, weshalb er sich vorgenommen hatte, so wenige Pausen wie möglich einzulegen. Nachdem er einen Berg umrundet und einen Wald durchquert hatte, schien ihm die Umgebung wieder vertraut zu erscheinen.
Es würde nicht mehr lange dauern. Ghost dachte auch kurz daran, Dr. Sullivan noch einmal zu besuchen, doch hatte er Angst, dass die Wachen auf ihn lauern würden. Außerdem wusste er noch nicht einmal, ob sie noch da war.
Von da an mied er die Straßen und Wege und kämpfte sich durch Felder und Dickicht. Je näher er seinem Ziel kam, desto mehr juckte sein Stumpf. Auch er schien nervös zu werden.
Nachdem er einen weiteren Wald durchquert hatte, lag das Dorf vor ihm.
Pestileia.
Ghost fasste sich ein Herz und unterdrückte den Drang loszustürmen. Genau dieser Unvorsichtigkeit war es geschuldet, dass er beim letzten Mal sein Ziel knapp verfehlt hatte.
Er schlich sich immer näher an das Dorf heran. Die Luft roch verkohlt. Ghost zählte eins und eins zusammen und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Die Mauern des Dorfes waren hoch und gaben keinen guten Blick auf sein Inneres. Von der Ferne aus erhaschte er einen Blick auf Wachen, die die Tore bewachten. „Dann werde ich wohl meinen eigenen Weg nehmen müssen“, dachte sich Ghost.
Es gab eine geheime Route, die ihm schon früher erlaubt hatte, das Dorf unauffällig zu betreten, aber auch wieder zu verlassen. Genau dieser Weg hatte ihm damals, als die Wunde an seinem Arm noch frisch gewesen war, auch aus dieser Tragödie gerettet.
Ein wenig abseits der Mauer befand sich ein Teich, neben dem eine kleine, von Büschen übersäte Bodenklappe versteckt war. Nicht viele wussten von diesem Fluchtweg, denn dieser führte genau in den Keller des Rathauses. Dorthin hatte ansonsten Niemand zutritt, ausgenommen der Dorfältesten, ein paar wenigen Mitarbeitern des Gebäudes und Ghost höchstselbst. Es schien sich eine weitere Gedächtnislücke in diesem Moment zu füllen. „Stimmt…“, dachte er, „Labartu hatte mir den Zugang zum Tunnel gegeben.“
Ghost schlich sich um die Mauer herum bis er den Teich erreichte. Er brauchte nicht lange nach dem geheimen Eingang zu suchen, denn er war nicht mehr so unauffällig, wie er einst war. Die Büsche waren zerzaust und an manchen Stellen war deutlich Blut auszumachen.
Ghost seufzte und hoffte, dass dieser Gang noch immer sicher sein möge. Mit der rechten Hand öffnete er langsam die Klappe und stieg hinab in die Dunkelheit.
Die Stille hier unten war erdrückend. Ghost‘s Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und er schritt durch den Gang voran. Es beängstigte ihn, nachdem er noch kurz zuvor im Untergrund gefangen gehalten worden war, durch diesen Tunnel zu schreiten, doch es gab keinen anderen Weg. Der Marsch durch das Dunkel schien Ewigkeiten zu dauern, doch er wusste, dass es nicht mehr allzu lange dauern konnte. Bald traf er auf eine Sackgasse, an deren Ende eine Leiter nach oben zu einer weiteren Lucke führte.
Umständlich versuchte sich der Einhändige die Leiter hinauf zu hieven, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. An der Dachluke angekommen, zögerte er. Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Schweiß rann ihm am Gesicht herunter. Er wusste nicht, was ihn auf der anderen Seite erwarten würde, doch würde es Alles verändern. Es würde ihm hoffentlich die Einsicht geben, die er brauchte; die Bestätigung, die er erhoffte.
Er holte tief Luft und stieß mit seinem linken Arm die Luke auf.
Ein beißender Gestank trat Ghost in die Nase. Er taumelte einen Augenblick, ehe er sich fasste und aus dem Loch zog. Ghost hustete und versuchte sich mit der Hand die Nase zu zuhalten. Er stand auf und begutachtete seine Umgebung. Der Keller war verwüstet. Mehrere Fässer waren umgekippt und mehrere Utensilien lagen achtlos auf dem Boden herum. Dreck zierte den gesamten Raum.
Ghost stapfte durch die Unordnung zum Ausgang. Er ging die Treppe hoch und lief in der Eingangshalle am Empfang vorbei, der noch unordentlicher aussah als der Keller. Blätter waren überall verstreut; hie und da waren auch ein paar Spritzer Blut zu sehen. Ghost wurde es immer unwohler bei dem Anblick. Er fasste sich ein Herz und öffnete die Haupteingangstür.
Der Gestank erdrückte ihn. Sein empfindlicher Geruchssinn wurde betäubt durch einen Gestank, der einen umbringen konnte. Ghost hielt den Atem an.
Vor ihm lag mitten auf dem einst so belebten Marktplatz ein Haufen, der aus Körpern bestand, die noch entfernt an Faunus erinnern konnte, nun jedoch leblos und bis zur Gänze verkohlt aufeinandergestapelt waren. Der Haufen war so groß, dass es mehr als die Hälfte des Platzes einnahm. Männer, Frauen, Kinder, alle hatten sie einen Platz unter den Toten gefunden.
Das war zu viel. Ghost würgte, kämpfte aber gegen den Reflex an. Er zwang sich wegzuschauen und sich zu beruhigen. Er schloss die Augen… und seine Erinnerungen kehrten zurück.

A Faunus TaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt