Kapitel 22

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„Alle sofort zurück in ihre Häuser! Das ist ein Befehl! Jeder Zuwiderhandelnde wird sofort erschossen!“ Die Durchsage hallte bereits seit einer halben Stunde durch die Straßen. Es waren Stunden vergangen, seit Ghost mit Kelly gesprochen hatte, als die Knights aufgetaucht waren, Absperrungen errichtet und mit dieser Durchsage begonnen hatten. Die letzten Faunus, die sich draußen aufgehalten hatten, hatten sich rasch in ihre Häuser zurückgezogen. Natürlich hatten sich Einige geweigert. Zur Strafe wurden die Faunus niedergeknüppelt und abgeführt. Seither hieß es, dass sie Schusserlaubnis hatten.
Diese Situation kam Remus fürchterlich bekannt vor. Früher war es oft vorgekommen, dass Menschen in ihr Dorf gekommen waren und die Bewohner misshandelt hatten. Die Diskriminierung war damals noch viel extremer gewesen. Die Faunus hatten keine Rechte und konnten sich unter menschlicher Regierung strafbar machen, wenn sie sich gegen die Menschen wehrten. Heutzutage trauten sich die meisten Menschen nicht mehr in die Nähe eines Dorfes, das nur aus Faunus besteht. Dies war teilweise der „White Fang“ zu verdanken, die radikal das Recht der Faunus versuchte durchzusetzen.
Remus hatte sich mitsamt seiner Familie in seinem Haus verkrochen und blickte zwischen den Vorhängen hindurch, um einen Blick auf die Patrouillen zu erhaschen. Casey verstand nicht, was vor sich ging. Sie hatte ab einem Punkt begonnen zu weinen. Sie hatte schreckliche Angst. Livia hatte sich zu ihr gesetzt und sie versucht abzulenken. Nun spielten die beiden am Küchentisch ein Brettspiel. Casey hatte sich beruhigt und war in das Spiel vertieft.
Remus kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren. Hatte er gerade einen Schrei gehört? Die Entwicklung der Situation gefiel ihm ganz und gar nicht. Es konnte kein Zufall sein, dass genau jetzt das Dorf in größerer Gefahr schwebte als jemals zuvor. Er dachte kurz an Kelly. Mit ein bisschen Glück würden sie bald aus dem Schalmassel raus sein, nur mussten sie erst einmal bis zum Rathaus kommen.
Remus war hin und hergerissen. „Sie mussten es versuchen unbemerkt bis zum Rathaus vorzudringen. Sie mussten es einfach versuchen.“
„Denk an das wohl deiner Frau und deines Kindes. Willst du das einfach so aufs Spiel setzen?“
„Was haben sie denn für eine Zukunft, wenn wir hier wie auf dem Präsentierteller warten?“
„Vielleicht ist es wirklich nur ein kleiner Eingriff? Vielleicht wird euch nichts passieren und die Quarantäne wird bald aufgehoben?“
„Glaubst du das wirklich? Ich will es nicht herausfinden.“
„Du willst deine Familie lieber einer unverantwortlichen Gefahr aussetzen?“
Die Stimmen, die in ihm um die Oberhand kämpften, wurden lauter und lauter. Remus‘ Körper wurde heiß. Er schien zu kochen und die ersten Schweißtropfen kullerten seine Stirn hinunter.
Draußen tat sich was. Ein paar Soldaten waren erschienen und traten brutal die Tür des Hauses gegenüber ein. Die Schreie waren nicht mehr zu überhören. Auch Casey und Livia blickten auf. Erstarrt und gebadet in Furcht sahen sie Remus an, der weiterhin kühl das Spektakel auf der anderen Straßenseite beobachtete. Eine Frau und ihr Kind wurden rausgezerrt. Das Kind schrie und die Mutter weinte fürchterlich. Eine männliche Stimme rief etwas im Innern des Hauses. Doch verstummte sie nach dem Knall dreier Schüsse.
Sowie diese Situation Angst in seiner Familie auslöste, so gab sie Remus die Stärke, sich für die einzige Chance zu entscheiden, mit der er, Livia und Casey lebendig aus dieser Sache wieder rauskommen konnten.
Eine Stunde später löste sich Remus endlich vom Fenster. In den Gassen war es still geworden. Die Knights marschierten seltener durch die Straßen und ihre Barrikaden standen. Die Zeit war gekommen.
Remus wandte sich an Livia. „Es ist so weit. Holt eure Sachen. Wir gehen.“
Livia nickte ihm kurz zu und holte zusammen mit Casey ihre Taschen. Remus ergriff seinen eigenen Rucksack und hängte seine Waffe an einen Holster auf seinem Rücken.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Er öffnete die Hintertür, die sie in eine kleinere Gasse führte. Entfernt waren mechanische Schritte auszumachen, doch schienen sie nicht in ihre Richtung zu kommen. Remus drehte sich zu seiner Tochter um. Er ging vor ihr auf die Knie. „Du musst jetzt ganz leise sein, Casey. Wir schaffen das.“
Casey gab keine Antwort. Sie blickte durch ihn hindurch und nickte einmal. Remus gefiel es nicht. „Keine Sorge. Ich werde auf uns aufpassen. Bleib einfach bei mir. Ja?“ Erneut bewegte sie ihren Kopf in der Vertikalen.
Es musste genügen. Er nickte ein letztes Mal Livia zu, die verkrampft wirkte. 
Remus drehte sich zu der Gasse und schlich seiner Familie voran dem Weg entlang. Sie nahmen die kleinsten und ungemütlichsten Seitenpfade, die Remus kannte, um so wenigen Soldaten wie möglich über den Weg zu laufen.
Sie hatten Glück.
Schlussendlich kamen sie ungesehen bis zur Seitentür des Ratshauses, an der Remus sich mit Kelly verabredet hatte. Er sondierte die Straße davor, um sicher zu gehen, dass sie nicht beobachtet wurden. Rasch huschten sie hinüber und Remus klopfte leise einen Code an die Tür. Ein paar Sekunden später wurde sie geöffnet.
Remus ergriff die Klinke und sperrte die Türe weit auf, um seine Familie hinein zu lassen, doch stand dahinter nicht Kelly, sondern Trivia.
„Gott sei dank habt ihr es geschafft“, meinte der alte Affenfaunus und scheuchte sie alle ins Innere des Gebäudes, ehe er die Tür wieder schloss und den Schlüssel drehte.
Remus lehnte sich an dem Türbogen, der in die Eingangshalle führte. „Danke vielmals, Trivia. Hat Kelly dich geschickt?“ Er drehte sich zu dem Ratsherrn um.
„Nein. Ich wurde von Labartu geschickt.“
„Labartu?“, fragte Remus ihn verwundert und sein Atem stockte einen Augenblick.
Dann bemerkte er nur noch den Schmerz an seinem Hinterkopf und um ihn herum wurde Alles schwarz.

A Faunus TaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt