Epilog

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Meine Socke ist runtergerutscht.

Aber ich bleibe nicht stehen, um sie wieder hochzuziehen.

Ich bin viel zu aufgeregt, als ich den langen Flur des Radiosenders hinuntereile. Man sagte mir, ich müsste zum Ende des Ganges und dann die vorletzte Tür links nehmen. Neben den Toiletten.

Aufregung pulsiert durch meine Adern, als ich einen kurzen Nachstellschritt vollführe, weil ich viel zu energievoll bin, um ruhig zu bleiben.

Vor der mir beschriebenen Tür bleibe ich stehen und fahre mir ein letztes Mal durch die Haare, bevor ich meine Socke hochziehe und den Stoff meiner Jeans glattstreiche (obwohl es da nichts zu glätten gibt...).

Man hat mir gesagt, ich darf einfach eintreten, weshalb ich, ohne zu klopfen, die Türklinke runterdrücke und die Tür leise aufschiebe.

„...von deiner Inspiration", höre ich eine fremde Stimme sagen und habe kurz Angst, dass ich falsch bin.

Dann erblicke ich allerdings ein mir sehr bekanntes Gesicht, das sich ruckartig zu mir wendet.

Als es mich erkennt, breitet sich ein strahlendes Lächeln auf seinen Lippen aus, das auch mich augenblicklich übertrieben grinsen lässt.

Wie immer, wenn wir uns lange Zeit nicht gesehen haben, überschlägt sich mein Magen vor Aufregung und Vorfreude und ich greife ganz automatisch an meinen Hals, um die Kette kurz zu berühren und mich zu vergewissern, dass sie noch an ihrem alten Platz liegt.

Kurz liegen alle Blicke des Raumes auf mir, aber ich bemerke nur Nialls, der sich gar nicht mehr von meinem Gesicht lösen möchte.

Zur Begrüßung hebe ich schnell die Hand, strahle weiter und husche dann zu einem freien Stuhl an der Wand. Mister Bringston sitzt nur ein Stück von mir entfernt und nickt mir mehr oder weniger freundlich zu.

Wir sind in den letzten Monaten aufgetaut.

Mittlerweile vertraut er mir so weit, dass er manchmal seine Sonnenbrille absetzt, wenn er mit Niall redet, obwohl ich im Raum bin.

Wir sind beinahe beste Freunde.

Niallis Augen liegen immer noch auf mir und aus seinem Gesicht kann ich genau lesen, wie überwältigt und froh er darüber ist, dass ich hier bin.

Er hatte darauf bestanden, mich nach dem Interview von zu Hause abzuholen, aber darauf konnte ich nicht warten und hab einen Flug von Finnland aus (ich hatte dort einen großartigen Auftritt) früher genommen, um noch nach Hause zu können, mich fertigzumachen und dann allein herzukommen, damit wir im Anschluss noch ein wenig Zeit miteinander verbringen können.

Das letzte Mal haben wir uns persönlich vor ungefähr drei Wochen gesehen. Als ob ich also noch eine Minute länger, als ich muss, warte, ihn zu sehen.

„Also nochmal. Niall, dein neuer Song", setzt der Interviewer erneut an und lenkt damit Nialls Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Erzähl uns von deiner Inspiration."

Auch wenn der Ire nun den Fragenden ansieht, bin ich mir sicher, dass das leichte Lächeln auf seinen Lippen mir gewidmet ist.

Ich betrachte sein Gesicht ganz unverschämt und frische meine Erinnerung an das Aussehen seines Profils auf, obwohl ich dieses eigentlich ganz einwandfrei ohne große Mühen auf der Stelle zeichnen könnte, weil es sich so in mein Gedächtnis geprägt hat.

Why Can't You See ist auch wieder so ein Song, den ich nicht aus meiner eigenen Perspektive geschrieben habe. Der Erzähler ist nicht in die Geschichte involviert, sondern ein stiller Beobachter, der zwei Menschen dabei zusieht, wie sie sich ständig beinahe begegnen, aber doch jedes Mal aneinander vorbeilaufen. Der Beobachter kennt die Gedanken und Gefühle beider Personen, kann aber nicht eingreifen, um sie endlich gegeneinander zu ‚schubsen'." Er malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. „Die Inspiration für diese Story kam von einem Traum, den ich hatte, aber die Inspiration für die beiden Personen stammen aus meiner Umwelt." Professionell lächelt er und legt beide Hände auf den Tisch vor sich.

Put A Little Love On MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt