》30. Kapitel《

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Ich öffne meine Augen, als neben mir etwas vibriert

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Ich öffne meine Augen, als neben mir etwas vibriert. Es ist mein Handy, nach dem ich greife. Ich bin immer noch im Garten, habe mich gesonnt. Doch nun werde ich wieder in die Realität zurückgeholt.

Ich habe eine Nachricht bekommen. Sie ist von Morain, wie ich überrascht wahrnehme.

Hey, Avery! Ich dachte mir, ich schreib dir mal, wie die Rosen am Geburtstag angekommen sind.

Mein Patenkind, Eli, die 16 geworden ist, hat die Rosen ja bekommen, wie du weißt. Sie hat sich mega darüber gefreut, weil sie noch nie Blumen bekommen hat. Ich soll dir von ihr ausrichten, dass sie begeistert war. Vor allem die Farbzusammenstellung, die du hinbekommen hast, sah grandios aus. :)

Ps: Wie geht's dir?

Nach Zögern tippe ich zurück. - Hi, Morain! Das freut mich sehr, dass die Rosen so gut angekommen sind. ... Ja, mir geht's gut. Ich sitze gerade im Garten. Und wie geht's dir?

Die Nachricht kommt schneller als gedacht. - Mir geht's auch gut. Ich werde, wenn ich mal wieder Blumen brauche, wieder vorbeischauen.

Das ist toll! ... - Ich überlege kurz. - Du Morain? Darf ich dich vielleicht etwas fragen?

Ja klar. Schieß los!

Ich brauche ein Bisschen, um zu tippen. - Wie hast du es geschafft, deine Narben mit einer solchen Selbstverständlichkeit zu zeigen? - Ich komme mir schon richtig blöd bei der Frage vor. Aber sie brennt mir auf der Seele.

Morain braucht ebenfalls einige Zeit. Es scheint wie eine Ewigkeit, in der ich an meinen Fingernägeln herumspiele und nervös auf meine Backe beiße. - Wenn du es wirklich wissen willst, dann war es ein langer Weg. Ich habe mich geschämt, hab mich nicht mehr schön gefühlt. Ich bin in ein Loch gefallen. Ich hatte niemanden an meiner Seite, der mir unter die Arme gegriffen hat, ...

Ich hab lange dafür gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass die Narben nur äußerlich sind. Natürlich bleiben innerlich auch welche zurück. Aber die Narben werden äußerlich betrachtet, oberflächlich. Ja, oberflächlich ist das richtige Wort. Wie, wenn jemand eine krumme Nase hat. Was macht das schon aus? Wir leben in einer Gesellschaft, wo so was bewertet wird. Aber das Aussehen macht nicht den Charakter aus.

Vielleicht ist das ein kleiner Trost. Kleine Makel machen uns aus, Avery. Sie machen dich nicht schlechter.

Ich hab mir eines Tages einfach gesagt: Mut oder kein Mut? Entweder lebe ich mein ganzes Leben, was jeden Augenblick enden könnte, in dem Wissen, dass ich nicht zu mir stehe. Oder eben nicht.

Also bin ich auf die Straße gegangen. Ohne mich zu verstecken, ohne den Blick nach unten, ohne mit Make-up die Narbe zu überdecken.

Und seit dem Tag habe ich mich gezwungen, daran zu arbeiten. Irgendwann geht es einem in Fleisch und Blut über. Irgendwann fragt man sich, warum das damals nicht selbstverständlich war. Daran merkt man, dass man es geschafft hat.

Also Avery. Es ist Zeit! Viel Glück. ;)

~☆~

Ich bin in meinem Zimmer. Ich blicke auf die lose Diele, unter der mein Buch versteckt ist. Der Schutzbunker meiner Heimat, meiner Vergangenheit, meiner Erinnerungen. Ich lasse meine Hand nach unten gleiten. Seit dem Vorfall mit Meli, habe ich es nicht mehr hervorgeholt.

Ich schlage es auf, betrachte es. Dann blättere ich die letzte Seite auf und beschreibe sie, setze ein Zeichen, das letzte Gute in diesem Buch: Einen Abschluss.

Nun bin ich hier, am Ende. Das ist die letzte Seite, die ich noch beschreiben kann, mit all meinen Worten. Danach ist dieses Buch voll. Komplett und wird nie wieder beschreiben. Danach ist es aus.

Ich hab mit ihm gelitten, mich ihm anvertraut, Erinnerungen niedergeschrieben, hab es als Tagebuch benutzt, ihm alles gegeben, alles gesagt, was ich nicht aussprechen konnte. Aber nun ist es vorbei.

Dieses Buch war mir ein treuer Begleiter. Ich habe mit ihm alles verdaut. Es hat mir geholfen, mit allem fertig zu werden. Aber irgendwann ist alles vorbei.

Ich brauche es nicht mehr. Es ist voll und so nehme ich Abschied. Ich habe abgeschlossen mit allem, was war. Ich schaue nach vorne. Und um das zu können, muss ich dieses Buch loslassen. Es gehört zu meiner Vergangenheit.

Also, liebes Tagebuch, Buch, oder was auch immer du noch alles bist und warst, hiermit lasse ich dich los.

Flieg los, behüte meine Erinnerungen, meine Vergangenheit, aber komm nicht zurück. Denn ich brauche das Niedergeschriebene nicht mehr. Ich hab eingesehen, dass ich stark bin.

Deine Avi.

Nun ist das Buch voll. Es ist vorbei. Und mit einem lauten Wumms fällt das Buch zu und wird nie mehr geöffnet.

~☆~

Ich bin in der Schule. Stehe mitten im Flur.

Ich lasse meinen Blick umherschweifen. Sehe, wie alle durch die Schulgänge streifen, wie sie sich unterhalten, lachen, aber auch wie sie wenig begeistert aussehen, weil sie zu wenig Schlaf abbekommen haben.

Nur ich bin nichts von alledem. Ich stehe in der Mitte. In der vollkommenen Mitte, habe mich ausgebreitet, breitbeinig stehe ich dort.

Ich atme aus und als meine Finger zu meiner Maske hochfahren, weiß ich, dass ich das Richtige tue. Ich schließe meine Augen. Nehme meine Maske in die Hand und lasse sie heruntergleiten, von meinem Gesicht, von meinen Narben.

Sie ist kein Versteck mehr. Weil ich kein Versteck mehr brauche. Ich brauche keinen Schutz, keine Mauer um mich herum.

Sie ist unten. Ich halte sie in meinen Händen. Mit dem nächsten Einatmen öffne ich meine Augen wieder.

Es ist still. Alle haben sich zu mir umgedreht, mustern mich, mein Gesicht, meine Erscheinung. Mich! Ich zeige ihnen mich selber. Es gibt keine Maske mehr, die sich vor mir aufbaut, die ihnen Gelegenheit bietet, mich nach dieser zu benennen, zu beurteilen. Nein! Es gibt nur noch Avery.

Langsam lasse ich meine Maske im Rucksack verschwinden. Es ist schwer, alle drängenden Blicke auszuhalten, aber ich weiß, ich werde die Maske nie wieder aufsetzten. Sie ist Vergangenheit.

Also fange ich an, mich zu verbeugen. Ganz langsam, Schritt für Schritt. Als ich meinen Blick wieder aufrichte, fange ich an, aus der Menge zu schreiten.

Ich blende das Getuschel aus, sehe sie nicht an. Selbstsicher stolziere ich weiter. Kinn hoch, Blick geradeaus.

Ich erblicke Mike, wie er mir zunickt. Ich nicke zurück. Ein Zeichen, eine Zustimmung, ein Blick nach vorne: Veränderung.

 Ein Zeichen, eine Zustimmung, ein Blick nach vorne: Veränderung

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Die MaskensammlerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt