Kapitel 1

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Kapitel 1

Evelyn's Sicht

„Guten Abend, Sir!" Ich richtete mich auf und warf dem Mann, der in seinem braunen Trenchcoat, Sonnenbrille und gestylten Haaren vor mir stand, ein erfreutes Lächeln zu. Er war ein Moroi, ganz klar. Er hatte bereits eine lange Reise hinter sich, er kam aus Kanada, irgendwo aus dem Norden. Seine Erschöpfung machte mich fast selbst etwas schläfrig. „Hallo" erwiderte er daraufhin nur, nahm seine Sonnenbrille ab und blinzelte ein paar Mal schnell. Offenbar brauchte er einen Moment, um sich an die Lichtverhältnisse des Foyers zu gewöhnen. Warum betritt man ein Hotel auch mit aufgesetzter Sonnenbrille? Ist ja nicht so, als wäre es hier drinnen blendend hell. Aber ihm schien es offenbar nicht viel auszumachen, sich an die Lichtverhältnisse gewöhnen zu müssen. Er hatte einfach vergessen, dass er sie noch getragen hatte, als er das Hotel betrat. „Ich habe reserviert" erklärte er mir dann endlich und blickte zu mir zurück. Ich unterdrückte den Drang, meine Augen zu verdrehen. „Auf welchen Namen, bitte?" Nicht, dass ich diese Information wirklich brauchte. Ich konnte auch so herausfinden, wie er hieß. Ich konnte alles über diesen Kerl binnen von Sekunden herausfinden. Aber das durfte ich nicht einfach so machen. Es würde Aufsehen erregen. Und das sollte ich besser nicht riskieren. Wenn ich eine Moroi wäre, würde es nur halb so schlimm sein, wenn rauskäme, was ich alles tun konnte. Aber ich bin keine Moroi.

Ich rief die Liste der Reservierungen am Computer auf. „O'Collins, James O'Collins" antwortete er. Ich nickte und scrollte hinunter. Dieser Satz klang perfekt einstudiert, aber wen wunderte das schon. Mich nicht. Solche Typen wie er waren hier Stammgäste. Man konnte sie an drei Merkmalen sofort erkennen: Trenchcoat, Sonnenbrille und einen einstudierten Identifikationssatz, der ein klassischer Abklatsch von „Mein Name ist Bond, James Bond" war. Reiche Moroi sind einfach alle gleich.

„Die Royal-Suite, nicht wahr, Sir?" fragte ich zur Bestätigung nach. Er nickte und ich trug die Ankunft des Gastes ein. Dann überreichte ich ihm seine Zimmerkarte. „Ihre Suite liegt im 3. Stockwerk. Der Fahrstuhl ist direkt hinter Ihnen. Ihr Gepäck wurde bereits auf Ihr Zimmer gebracht. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt!" Er nickte zum Dank, das nahm ich zumindest an, und ging zum Fahrstuhl.

Ich weiß, das ist kein wirklicher aufregender Job. Aber genau genommen ist es auch gar nicht mein Job. Sondern meine Pflicht. Oder ein Gefallen. Oder mein Erbe. Oder auch einfach nur Pech. Man konnte meine Situation nennen wie man wollte, es gab viele passende Umschreibungen. Meinem Vater gehörte dieses Hotel, welches sich in einem Skigebiert befand, hoch oben in den Bergen. Man könnte es fast als Kaff bezeichnen. Nur ganz zutreffen tat das auch wieder nicht, weil dieses Gebiet ziemlich beliebt und gut besucht ist. Unser Hotel ist eines der Größten im Umkreis. Was aber auch nicht zu viel aussagt, denn im näheren Umkreis von 50 Kilometern gab es keine anderen Dörfer, geschweige denn Hotels. Dennoch, dieses hier war nicht gerade klein. Es besaß fünf Stockwerke und war ein Bauwerk ganz aus Holz. Es sollte rustikal wirken, aber gleichzeitig gemütlich und luxuriös. Mein Vater wusste genau, was die Gäste so wollten. Aber mir gefiel es trotz allem. Auch wenn ich sonst alles an diesem Ort hasste.

Mein Name ist Evelyn Falk und ich bin 17 Jahre alt. Ich lebe hier in Montana seit meiner Geburt, zusammen mit meiner Familie. Die komplette Familiengeschichte zu erzählen würde allerdings zu lange dauern und würde ich auch niemandem zumuten wollen.

Ich bin jedenfalls ein Dhampir.

„Na, was geht ab, Schwesterchen?" Ich schreckte auf, als sich mein Bruder gut gelaunt über den Thesen schwang und vor mir auf dem Schreibtisch zum Sitzen kam. Er grinste mich verschmitzt an und strich sich seine Haare aus der Stirn. „Ben!" rief ich empört und gab ihm einen Klaps auf den Arm. „Man, hör auf damit!" Er lachte laut auf. „Entspann dich mal, Ev, es ist doch nichts los!" Er sprang vom Tisch herunter. „So öde wie heute war es schon lange nicht mehr. Wann bist du noch gleich fertig?" Ich sah auf die Uhr. „In 30 Minuten kommt Marina und löst mich ab. Warum? Du hast doch eh nichts zu tun heute." Er verdrehte die Augen. „Na deswegen bin ich doch hier. Mir ist langweilig." Ich schnaubte. „Klar. Und ich muss dich also bespaßen, oder wie?" Er zuckte mit den Schultern. „Na, ich dachte, wir können in den Club gehen!" Ich seufzte und lehnte mich auf dem Stuhl zurück. Mit Ben konnte man gut feiern gehen. Er war nur 12 Monate älter als ich, wir waren also quasi als Zwillinge groß geworden. Ich weiß, wer war schon so bescheuert und lässt sich drei Monate nach der Geburt wieder schwängern? Tja, ich habe es auch nie verstanden. Aber das war nun mal meine Mutter. Und das ist noch nicht mal das krasseste an meiner Familiengeschichte. Glaubt mir. Eigentlich ist das eine ziemlich unspektakuläre Information.

Vermächtnis der KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt