Stunde 12

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„Hey, KID, ich hab mal eine Frage", begann Shin'ichi und versuchte so, ein Gespräch mit dem Meisterdieb ins Rollen zu bringen.
Er bemerkte, dass der Dieb unruhig wurde, als er diese Frage laut aussprach. Währenddessen machte er sich daran, Kaitos Wunden an den Beinen zu säubern.
„Es hat nichts mit deiner wahren Identität zu tun", fügte Shin'ichi schnell hinzu. „Dafür ist nicht der richtige Zeitpunkt. Aber glaub deswegen ja nicht, dass ich es nach alle dem hier aufgeben werde sie herauszufinden."
Kaito schmunzelte.
„Hätte ich auch nicht anders von dir erwartet, Tantei-kun", antwortete er und legte sein Pokerface an den Tag. „Na schön, da es nicht darum geht, schieß los mit der Frage."
Shin'ichi befestigte grade ein Pflaster an Kaitos Knie, als er ihn ansah und fragte: „Warum bist du hier?"
Verwirrt schaute Kaito ihn an.
„Das hab ich dir doch schon gesagt", meinte er. „Ich hab ebenfalls einen Brief bekommen und bin deshalb hierher. Allerdings wusste ich nicht, wieso. Der Brief klang ziemlich komisch und ich wusste, dass dort irgendwas passieren würde. Schließlich bekommt man nicht alle Tage einen Brief an seinen richtigen Namen adressiert, wenn man innerhalb des Briefes jedoch mit 'Sehr geehrte Kaito KID' angesprochen wird..."
„Der Absender kannte deine Identität?", fragte Shin'ichi, riss die Augen auf und starrte Kaito entsetzt an.
„Sieht ganz so aus", meinte er bitter.
„Weißt du wer es gewesen sein könnte? Kennst du jemanden?", hakte Shin'ichi nach und fing nun an, Kaitos Arm zu verarzten. Er krempelte sein Hemdärmel hoch und wischte das getrocknete Blut ab. Dann reinigte er sie und klebte Pflaster drauf. Als er fertig war, ging er zum anderen Arm hinüber, darauf bedacht, sein Bein nicht so stark zu belasten. Was gar nicht so leicht war, es pochte höllisch und tat bei jeder Bewegung weh.
„Leider habe ich keine Ahnung", meinte Kaito und sah Shin'ichi bei seiner Arbeit zu. „Aber dieser jemand scheint uns beide nicht sehr zu mögen..."
„Das stimmt", murmelte Shin'ichi in Gedanken versunken. „Anscheinend hegt er oder sie einen ziemlichen Groll gegen uns."
Zustimmend nickte Kaito, während Shin'ichi die letzten Pflaster auf seinen Arm klebte.
„So, jetzt sind deine Hände dran", sagte der Detektiv und sah Kaito mitleidig an. „Ich schätze mal, dass es leicht brennen wird. Ich gieß dir etwas Wasser drauf."
„Kannst du sie nicht einfach verbinden?", murrte der Dieb und sah Shin'ichi zähneknirschend an.
„Könnte ich, aber dann würden die Wunden verunreinigen, ich muss sie säubern. Und da diese Tinktur zu stark für Schnittwunden ist, nehme ich einfach nur Wasser."
Kaito machte den Mund auf um was zu erwidern, doch da stand Shin'ichi schon auf, griff nach einer Kanne, die sie in seinem Rucksack verstaut hatte, und humpelte aus der Hütte hinaus.
Als er wieder herein kam, hatte Kaito ein grimmiges Gesicht aufgesetzt.
„Du sollst doch nicht so rumlaufen", meckerte er.
Shin'ichi grinste.
„Du hörst dich ja an wie eine meckernde Ehefrau", lachte Shin'ichi und kam mit einer randvoll gefüllten Kanne Wasser wieder zurück.
„Im Ernst, Tantei-kun", sagte Kaito. „Du solltest sitzen bleiben."
„Und wie, wenn deine Wunden nicht versorgt werden?", wollte der Detektiv wissen. „Außerdem kann ich dich mit deiner halb zerfetzten Maske und deiner schief hängenden Perücke nicht wirklich ernst nehmen."
„Damit musst du leben, ich habe keine andere Maske und die Perücke kann ich gleich gegen eine tauschen, die mehr jungenhaft aussieht, wenn dir das lieber ist", sagte Kaito achselzuckend.
Der Detektiv grinste wieder. Doch dann stellte er die Wasserkanne neben Kaito ab und setzte sich vor ihm hin.
Fordernd streckte er seine Hand aus.
Leicht zögernd gab Kaito seine Hände frei und zeigte sie Shin'ichi. Vorsichtig nahm Letzterer eine davon, breitete sie mit der Handfläche nach oben aus und zuckte leicht zusammen. Anscheinend hatten die Wunden sich vergrößert und waren wieder aufgegangen, nachdem Kaito Shin'ichi versorgt hatte.
„Du bist so ein Sturkopf!", schimpfte Shin'ichi und goss wütend Wasser über seine Hände.
Schmerzlich zuckte Kaito zusammen. Sofort verrauchte Shin'ichis Wut und er seufzte resigniert.
„Entschuldige", sagte er und ließ das Wasser nun langsamer fließen. „Aber warum sagst du denn nichts, wenn deine Hände so schmerzen?"
Kaito war selbst überrascht, dass sie wieder angefangen hatten zu bluten. Er hatte es nicht ein Stück bemerkt.
„Ich hab es irgendwie ausgeblendet", meinte er und kratzte sich kurz mit einer Hand hinterm Kopf, bevor er sie wieder unter das Wasser hielt. „Und es auch kaum bemerkt..."
Shin'ichi sah den Dieb zweifelnd an.
„Glaubst du etwa, ich lüge?", fragte Kaito.
„Du bist ein Dieb..."
„Du hast das Meister davor vergessen, Tantei-kun."
„Nenn mich nicht so."
„Früher hast du dich nie über den Namen beschwert."
„Früher hatte ich auch keine Gelegenheit dir das zu sagen, da du gleich immer wieder abgehauen bist."
„Also wolltest du, dass ich länger bleibe?"
Am liebsten hätte Kaito sich nun selbst getreten. Wie kam er denn auf so eine Frage?
„Naja, also von der Tatsache mal abgesehen, dass ich dich vielleicht schon geschnappt hätte, wenn du manchmal länger geblieben wärst", erwiderte Shin'ichi grinsend. Er schien entweder nicht zu bemerken, dass Kaito auf einmal so eine etwas komische Frage gestellt hatte oder er hatte es einfach nicht so interpretiert.
Damit sah er jedoch wieder auf Kaitos Hände und stoppte den Wasserstrahl. Dann nahm er einen von seinen zerrissenen Ärmeln, riss ihn ganz ab und tupfte damit auf den Händen des Diebes herum.
„Autsch", zischte Kaito leise, riss sich aber zusammen.
Nachdem Shin'ichi mit dem Abtupfen fertig war, holte er einen Verband aus Kaitos Erste-Hilfe-Koffer und legte ihn an seinen Händen an.
„Fertig", sagte er. Er zögerte, bevor er den nächsten Satz aussprach. „Fehlt nur noch dein Gesicht..."
Kurze Stille.
„Aber ich kann verstehen, wenn du es lieber selber machen willst. Ich geh dann solange nach draußen oder starre an die Wand."
Perplex starrte Kaito ihn an. Shin'ichi respektierte wirklich, dass er seine Identität nicht preisgeben wollte.
„Wieso?", fragte er ihn schließlich. „Wieso ziehst du mir nicht einfach diese eh schon ramponierte Maske herunter und enttarnst mich, sondern lässt mir sogar die Wahl?"
Shin'ichi zuckte mit den Schultern legte den Verband zurück in den Koffer.
„Aus zwei Gründen", meinte er nur. „Der erste ist, dass jetzt einfach nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist. Wir haben wichtigeres zu tun und ich fände es unfair, das jetzt einfach auszunutzen, da ich das nicht gegen deinen Willen machen werde. Und zweitens, weil ich es gerne bei einem Coup machen würde, wenn wir uns ebenbürtig gegenüberstehen. Und drittens..."
„Du sagtest, es gäbe nur zwei Gründe", warf Kaito dazwischen.
„... glaube ich, dass du genauso wie ich einen Grund dafür hast, deine Identität geheim zu halten..."
Shin'ichi stand unbeholfen auf und warf einen Seitenblick zu Kaito hinunter. Dieser starrte stumm auf den Boden und gab kein Ton von sich.
Als Shin'ichi keine Antwort bekam, ließ er innerlich wie ein trauriger Hund die Ohren hängen. Aber er wusste, dass Kaito ihn bestimmt nicht so nah an sich heranlassen würde, da er ihm einfach nicht genug vertraute. Kein Wunder, eben hatte er ja noch gesagt, dass er ihn am liebsten bei einem Coup von ihm enttarnen würde. Das Vertrauen zwischen einem Dieb und Detektiv... so etwas würde doch niemals gutgehen.
„Naja, ich werde jetzt etwas essen", versuchte Shin'ichi die Stille zu durchbrechen. „Und danach... können wir ja weitersehen."
Als Kaito sich immer noch nicht rührte, humpelte der Detektiv zu seinem Rucksack hin, setzte sich daneben und durchsuchte ihn nach etwas zu Essen. Viel war nicht mehr übrig, aber es reichte für den Anfang.
„Möchtest du auch etwas?", fragte Shin'ichi Kaito und drehte sich wieder zu dem Dieb um.
Doch dieser saß nicht mehr stumm auf dem Boden, sondern stand jetzt wieder.
„Dreh dich bitte um", sagte Kaito. „Ich... wasch mir eben übers Gesicht."

24 Stunden mit Kaito KIDWo Geschichten leben. Entdecke jetzt