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Winter:

‚LA ist wie ein Lamborghini.'

Kein Schriftsteller, Dichter oder Poet hätte diese Worte je in den Mund genommen, aber mein Bruder war auch nichts dergleichen. Er war nur ein einfacher Barkeeper in der Bar um die Ecke.

Daher hatte er auch oft solche Dinge gesagt, die zwar nicht mit Shakespeare oder Goethe zu vergleichen waren, aber auf verdrehte Weise dennoch der Wahrheit entsprachen. Und dieser zwar recht unkonventioneller Vergleich von einer Millionenstadt mit einem Luxuswagen war einer seiner liebsten.

‚Glaub mir, Tayo.', hatte er gesagt und ich hatte mich unauffällig weggedreht, da sein Atem nach Alkohol stank. ‚LA ist wie ein Lamborghini. Er fährt auf dem Freeway zu schnell und ohne Rücksicht auf Verlust. Und die Landschaft im Rückspiegel, das sind die Vorstädte mit den kleinen Gärten und perfekten Familie.'

An dieser Stelle war er leicht nach vorne getaumelt und ich erwartet schon, dass er mir vor die Füße kotzte, als er sich wieder fing und weitersprach. ‚Aber weißt du, wo wir sind, Tayo? Wo ist da ein Platz für uns? Alle sehen nur den teuren Wagen und die hübsche Landschaft. Niemand sieht uns. Wir sind der tote Winkel, Tayo. Der tote Winkel von LA.'

Damals hatte ich auf die Worte eines Betrunkenen nicht viel gegeben, aber mittlerweile ging mir dieser Vergleich nicht mehr aus dem Kopf.

Während ich die Tresen des Puzzles schrubbte und versuchte diesen einen Fleck zu lösen, der dort schon klebte, seit ich vor einem Monat hier angefangen hatte. Hier, in der Bar um die Ecke, wo auch mein Bruder gearbeitet hatte.

Ich erinnerte mich noch sehr gut an den Tag, an dem mein Bruder Kai mich vor der Haustür abfing, leicht torkelnd und vor sich hinredend. Auch erinnerte ich mich noch an den Nachmittag selben Tages, als ich von der Schule zurückkam und diese bedrückende Stille mich empfing. Es war diese Stille, die kurz nach einem Streit auftrat, dieser Zeitraum, wenn es nichts mehr zu sagen gab, aber auch noch keiner nachgeben wollte. Ich glaube, meine Mutter hatte Kai eine Ohrfeige gegeben, vielleicht sogar zwei, aber welche von der Sorte die richtig wehtaten.

Zumindest war Kai ab diesem Tag nie wieder morgens betrunken ins Haus gestolpert. Er hatte nach und nach seinen Gefallen an Alkohol verloren und wenn er doch wieder zur Flasche griff, schlief er bei Freunden. Aber ich wusste nur, dass ich verdammt glücklich war, ihn nicht mehr sprechen zu müssen, wenn er betrunken war.

Denn dann sagte er die Wahrheit. Wir lebten im toten Winkel von LA und niemanden interessierte es, was mit uns passierte.

„Warum tust du das?" Erschrocken drehte ich mich um. Vor mir stand DK, der zweite Barkeeper des Puzzles. Überall sonst hätte man ihn schon Minuten vorher an dem Geruch nach Tabak und Rauch erkannt, aber hier übertönte das billige Parfum und der Schweißgeruch, der ständig in der Luft hing, selbst seinen Körperdunst.

„Was meinst du?", fragte ich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie unwohl ich mich in seiner Gegenwart fühlte. Um genau zu sein ließ mich dieser ganze Ort erschaudern. Ich hasste den abartigen Geruch, die klebrigen Tresen und die Tatsache, dass ich dennoch nirgendwo anders arbeiten wollte.

„Warum wischst du immer wieder über diesen Fleck?"

„Weil ich will, dass er weggeht."

„Das wird nicht funktionieren, der ist schon da, seit ich hier angefangen habe." Ekel ergriff mich bei dem Gedanken, aber ich wollte noch nicht klein beigeben.

„Hast du es überhaupt versucht?"

„Nein."

„Eben." Ich wandte mich wieder den Tresen zu, um ihm zu signalisieren, dass diese Unterhaltung für mich beendet war, aber er ließ nicht locker.

All girls, except one, grow upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt