Wer bist du?

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Winter

Als es beendet war, sah ich es mir noch einmal an. Und noch einmal.

Und jedes Mal wieder sah ich Nika Ramirez nicht springen, sondern stolpern. Weil James sie geschubst hatte. Weil er sie getötete hatte.

Und Courntey und Liam, und Olivia und Zac sie alle waren dabei gewesen und hatten es gesehen. Und hatten geschwiegen. Wie auch Madison.

Mein Blick glitt zu dem zerrissenen Papier im Mülleimer und die Lücken, die mich so in den Wahnsinn getrieben hatte, sie schlossen sich.

Ich sprang auf und rannte hinaus. Die Treppen hinunter bis zu Madonna. Ich schloss Madonna auf und meine Hände zitterten, als ich sie um das Lenkrad legte.

Die Landschaft flog an mir vorbei, doch ich beachtete die Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht.

Denn in meinem Kopf brannte es. Die Flammen, sie züngelten durch meine Gedanken und griffen langsam auf mein Herz über.

Nein!', am liebsten wollte ich schreien, ‚Nein! Nein! Nein!'

Mit quietschenden Reifen blieb ich stehe. Stuckburn war wie an jedem späten Abend still. Nur leises Vogelzwitschern durchbrach die Ruhe und der Geruch von den Hyazinthen, die in jedem Vorgarten blühten, lag in der Luft.

Eine Sekunde, ich leistete mir eine Sekunde, in der ich den Anblick des schlichten Hauses und die frische Luft genoss. Dann stieg ich aus und das Herz pochte in meiner Brust, wand sich schmerzhaft unter den Flammen eines so grausamen Verdachts.

Ich klopfte an der Tür. Dreimal, laut und kräftig. Eine Frau öffnete. Sie war mittleren Alter, trug eine feine Blus und betrachtete mich, der in einer zerknitterten Schuluniform vor ihr stand, abfällig.

Doch jeder Funke von Höflichkeit und Anstand war verbrannt und so stieß ich nur eine Frage hervor:
„Wo ist Madison?"

„Wer sind Sie?"

„Ein Freund ihrer Tochter. Wo ist sie?"

„In ihrem Zimmer, aber ...", weiter kam sie nicht, denn ich quetschte mich an ihr vorbei ins Haus. Ein empörtes Schnaufen folgte mir, doch das Klackern der Schuhe verlor sich in der Küche, während ich die Treppe hinauf raste. Zwar hatte mir Madison nie genau gesagt, wo ihr Zimmer lag, aber Verhältnismäßig gesehen hatten die meisten Kinder ihre Zimmer im ersten Stock.

Mehrere Türen zweigten von dem Flur ab, doch ich überlegte nicht lange, sondern wählte die, auf der noch der Kleber von Tesafilm anhaftete wie das letzte Überbleibsel eines Posters aus Kindertagen.

Das Zimmer, das unverkennbar Madison gehörte, war leer. Es war fast schon penibel sauber und an der einen Wand stand ein Spruch, der so gar nicht zu Madison passen wollte.

‚Lebe so, dass du nichts zu bereuen hast.'

So etwas funktionierte vielleicht in einer Wunschvorstellung, aber die Realität verhinderte ein solches Leben und Madison hatte es genauso gut gewusst wie ich.

Nur eine Lade war zwischen all dieser Ordnung aufgerissen, doch sie war leer.

Wo sollte ich Madison nun suchen? Ich sprintete wieder nach unten, wollte gerade aus dem Haus verschwinden, als ich einen kleinen Blick in die Küche erhaschte. Ich blieb stehen.

Madisons Mutter nahm gerade einen großen Schluck Wasser, um die Tabletten herunter zu spülen, die sie sich auf die Zunge gelegt hatte.

„Was sind das für Tabletten?", fragte ich sie, darum bemüht ruhig zu sprechen, und sie zuckte erschrocken zusammen, als hätte sie meine Anwesenheit bereits verdrängt.

All girls, except one, grow upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt