Winter:
Auch am nächsten Tag erzählte ich Marco nichts von Olivias nächtlichen Aktivitäten. Er sprach ununterbrochen über seinen Artikel, den er morgen posten wollte und ich hörte zu, während ich aus dem Augenwinkel Madison beobachtete.
Nach der Schule fuhr ich mit dem Bus direkt weiter zur Normandie Avenue, denn nur zwei Häuserblocks entfernt gab es die Stadtbücherei St. Luther. Ellouise, die Bibliothekarin, begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln.
Die Bücher in der Stadtbücherei fingen bereits Staub und es hatte schon lange kein Kunde mehr die Türschwelle überschritten. Ich unterhielt mich lange mit Ellouise, bevor ich wieder ging. In der Tasche den Klassiker ‚Peter and Wendy' von J.M. Barrie.
Zuhause machte ich mir ein Fertiggericht, Nudeln mit Tomatensoße, warm und fing an zu lesen.
Es ging um einen Jungen, Peter Pan, der nie erwachsen werden wollte. Also lebte er mit den Lost Boys und der Elfe Tinker Bell auf Neatherland und verlor nie sein allererstes Lachen.
Als ihm aber eines Abends sein Schatten in der realen Welt weit weg von Neatherland gestohlen wurde, traf er auf die Darling Geschwister Wendy, Michael und John. Weil die Lost Boys sich nach einer Mutter sehnten und Wendy das Neatherland aus ihren Träumen sehen wollte, folgten die Darling Geschwister Peter Pan und Tinkerbell auf die Insel Neatherland.
Mein Timer klingelte und erinnerte mich daran, dass meine Schicht in der Bar in wenigen Minuten begann. Auf dem Weg dorthin ordnete ich meine Gedanken. Ich musste unbedingt noch mit Madison sprechen, bevor Olivia um 9 Uhr kommen würde.
Und als wäre mir das Glück heute gewogen, traf Madison eine halbe Stunde nach meiner Ankunft in der Bar ein. Sie setzte sich an den Tresen und schlug ihr Buch auf.
Eine Weile beobachtete ich sie wieder nur aus dem Augenwinkel, dann holte ich eine Flasche Wasser und schob sie zu ihr über den Tresen.
„Es gibt eine Sache", sagte ich, „die mir jeder Junge, der mir dient, versprechen muss. Du auch."
Sie blickte von ihrem Buch auf und auf ihren Lippen erschien dieses eine Lächeln, das mich jedes Mal vergessen ließ, dass die Welt sich um die Sonne drehte. Verdammt, die Welt sollte sich nur um ihr Lächeln drehen.
„Die Sache ist die,", sagte sie, „wenn wir im offenen Kampf auf Hook treffen, musst du ihn mir überlassen."
Ich grinste. Ich konnte nicht anders, dieses überglückliche Gefühl breitete sich in meinem Körper aus, übernahm meine Gedanken und zupfte an meinen Mundwinkeln. Nicht mal DK, der uns irritiert ansah, konnte daran etwas ändern.
„Du liest ‚Peter and Wendy'?", fragte Madison und ich zuckte mit den Schultern, um nicht zu bemüht zu wirken.
„Ich habe angefangen, aber ich bin noch nicht sehr weit."
„Wie findest du es bis jetzt?", fragte sie und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es gab so vieles, was mir zu diesem Buch einfiel.
„Faszinierend", sagte ich schließlich, „Ich mag die Gedanken. Sie sind ungewöhnlich, vor allem im Bezug auf Kinder."
Sie grinste, als sie das hörte.
„Ich weiß. Kinder sind herzlos und Mütter vollkommen überschätzte Persönlichkeiten."
„Sag das bloß nicht meiner Ma", sagte ich, „sie würde dir den Arsch aufreißen."
Meine Mutter war zwar keine der schwarzen Power-Frauen, die man so oft in Serien sah, mit dröhnender Stimme und knallhartem Stursinn, denn meistens war sie erschöpft von ihren Jobs, aber auf zwei Sachen legte sie wert. Auf Gott und auf Dankbarkeit. Sagte man etwas gegen einer dieser zwei Sachen konnte sie regelrecht zur Furie werden (ich erinnerte mich noch immer an die Ohrfeige, als ich ihr erklären wollte, dass es aus rein logischer Sicht keinen Gott gibt und dass, selbst wenn es ihn gäbe, er den toten Winkel schon längst verlassen hätte.)
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All girls, except one, grow up
Mystery / Thriller[Wattys Gewinner 2021] Tayo Ousman bekommt die Chance seines Lebens! Ein Stipendium an der Privatschule Hemingway-High soll sein Sprungbrett aus L.A.s toten Winkel sein. Doch was erstmals wie eine glückliche Gelegenheit wirkt, entpuppt sich schnel...