Die Last der Wahrheit

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Winter:

Als Zac Jones am 23.01.2019 aufwachte, war er noch am Leben. Und er war so viel mehr als das. Er war ein Sohn, ein Freund und unser Mitschüler. Jetzt ist er nicht mehr als eine Leiche in der Pathologie.

Aber interessant ist meiner Meinung nach nicht, dass gerade in diesem Moment ein Pathologe an unserem Mitschüler herumschnibbelt, sondern viel mehr wie es dazu kam. Wir alle kannten Zac, wir wussten wie er war und was er tat – schließlich hat er es uns in seinen Youtubevideos oft genug unter die Nase gerieben. Deswegen kann ich auch mit an Wissen grenzender Wahrscheinlichkeit behaupten, dass er in den ersten beiden Stunden Mathematik bei Mr. Lang wohl kaum aufgepasst hat. Er hat unter der Tischplatte durch sein Handy gescrollt, das Bild der Blondine aus der Parallelklasse geliket und überlegt wessen Leben er mit seinem nächsten Youtubevideo ruinieren will. Während der Pause isst er in der Kantine unterhält sich mit seinen Freunden, wie jeder andere Schüler auch, bevor die letzten beiden Stunden – des Schultags und ironischerweise auch seines Lebens- beginnen. Denken wir nun wie ein Mörder. Wie kann man einen Schüler während des Unterrichts in einem leerstehenden Chemiesaal erhängen? Die Lösung ist einfach: Hole nicht dein Opfer, sondern lasse es zu dir kommen. An selbigem Tag fand Mr. Furgerson in seinem Fach eine Nachricht, dass Zac Jones um 1.20 einen Termin bei Mrs. Lalic, unserer Beratungslehrerin, habe. ‚Um seinen Horizont für die Zukunft zu erweitern', war der genaue Wortlaut (wir suchen also einen Mörder mit Humor). Jeder, der schon einmal in Mr. Furgersons Unterricht festsaß, wird wissen, mit welcher Begeisterung Zac dieser Anweisung Folge leistete und aus dem Unterricht entschwand. Mit welcher Begeisterung er seinem Mörder entgegenlief. Die Einzigen, die uns sagen könnten, was ab diesem Zeitpunkt geschah, sind wohl der Mörder und Zac Jones selbst und beide ziehen es mehr oder weniger freiwillig vor zu schweigen. Das Einzige, was ich euch zu diesem Zeitpunkt sagen kann, wisst ihr schon. Zac wurde erhängt. Und dabei gefilmt. Das Video auf seinem eigenen Youtube Kanal gepostet. Die Polizei sucht krampfhaft nach Hinweisen, die es nicht gibt. Ich kann nur so viel sagen: Zac war unser Mitschüler und auch ein – wenn auch ziemlich nervtötender – Freund und jetzt ist er tot. Meine einzige Frage ist also folgende: Wer war der Mörder?


„Du hast nicht zu viel versprochen.", murmelte ich, während ich das Bild unter Marcos Artikel betrachtete. Es war das Foto, das wir vor ein paar Tagen geschossen hatten und als Überschrift hatte Marco ‚Der letzte Augenblick aus Zacs Augen' gewählt.

Für die restlichen Informationen war er den Lehrern, Polizisten und noch einigen anderen Leuten gründlich auf die Nerven gegangen und auch wenn sie ihm alle versichert hatten, dass er nichts aus ihnen herausbekommen würde, war es nun mal Marco. Er war nervtötend, überzeugend, irgendwie sogar schlau und genau das machte ihn zu einem so guten Journalisten.

Den Artikel hatte er heute morgen gepostet und bereits jetzt war er über zweitausendmal aufgerufen worden. Auch ich ließ ihn mir nun schon zum dritten Mal durch – natürlich nur weil mich das Thema interessierte, nicht weil ich mich vor den Sportunterricht drückte. Seufzend legte ich mein Handy schließlich weg, der Rest des Kurses war bereits auf dem Sportplatz und es machte einen schlechten Eindruck sich zu verspäten.

Ich trat gerade aus der Umkleide, in Gedanken noch bei dem Artikel und den gestrigen Abend in der Bar mit Olivia, als ich fast mit Madison zusammengeprallt wäre.

„Sorry", murmelte ich und Madison zog eine Augenbraue hoch.

„Noch nicht im Hier und Jetzt angekommen?" Zusammen schlugen wir den Weg zum Sportplatz ein.

„Noch lange nicht. Und manchmal frage ich mich, ob ich das jemals will.", sagte ich und ließ meine Wasserflasche von der einen in die andere Hand wandern.

All girls, except one, grow upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt