Kai Ousman

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Winter:

Die Lehrer schickten uns schließlich nach Hause, an Unterricht war nicht mehr zu denken. Also wartete ich eine weitere halbe Stunde auf den Bus, nur um jetzt in unserer leeren Wohnung zu stehen.

Meine Eltern arbeiteten beide noch und würden erst spät am Abend, wenn ich bereits in der Bar war, nach Hause kommen.

Ich sah sie schon vor mir. Wie sie ihr gemeinsames Abendessen zubereiteten, wie meine Mutter meinem Vater noch einen letzten Gute-Nacht-Kuss gab, bevor sie zu Bett ging, während mein Vater in der Küche saß, seine müden Augen kaum noch offen halten konnte, aber trotzdem bis spät in die Nacht wartete.

Ich hingegen tat das, was ich immer tat, wenn ich allein war und Langeweile hatte. Ich bereitete mir ein Fertigessen von Walmart – heute Buchstabensuppe zum Warmmachen- und dann setzte ich mich an meinen alten Computer und öffnete die Suchleiste.

Als Erstes gab ich Nika Ramirez ein. Es gab nicht so viele Links, wie ich es mir erhofft hatte und während ich mich durch die Seiten klickte, fielen mir zwei Dinge auf.

Erstens: Es hatte tatsächlich eine Nika Ramirez gegeben und sie war auch aus dem 3. Stock der Hemingway-High gesprungen und gestorben.

Und zweitens: Die Artikel waren vernichtend kurz und es war beinahe schon eine Beleidigung, dass ein paar Zeilen anscheinend für den Tod eines Mädchens reichten. Nichts über die Umstände oder die Gründe.

Als Nächstes war Zactastic an der Reihe. Den Youtube Kanal gab es noch, aber das letzte Video war bereits gesperrt, wofür ich äußerst dankbar war. Nie wieder wollte ich so etwas Schreckliches wie eine Erhängung ansehen müssen.

Dann klickte ich durch die Videos mit den meisten Aufrufen. Auf manchen waren Zac und seine Freunde zu sehen, wie sie an einem Pool lagen und sich bräunten oder in einem schwarzen Mercedes fuhren, der anscheinend Liam gehörte. Aber auf anderen, die ich gleichzeitig abscheulich und interessant fand, filmte Zac Situationen aus seinem Schulalltag.

Da war ein Clip mit einem schwarzhaarigen Mädchen, das Courtney eine Ohrfeige gab, so stark, dass Courtney zur Seite weg taumelte. Man konnte nicht hören, was sie zuvor gesagt hatte, aber nach dem Gesichtsausdruck des Mädchens zu urteilen war die Ohrfeige gerechtfertigt gewesen. In den Kommentaren fand ich ausschließlich Beleidigungen, die sich auf das Mädchen bezogen. ‚Diese scheiß Getto Hure soll dahin zurück, wo sie herkommt!' ‚Was eine Bitch!'

Ab ‚Lesbenschlampe' hörte ich auf, die Kommentare zu lesen und scrollte weiter durch die Videos. Und da sah ich Madison. Sie hatte zwar lange Haare, aber ihre Gesichtszüge waren unverkennbar. Doch mit jedem Video, das ich anklickte schwoll der brennender Ball in meiner Brust weiter an.

Sie nannten Madison ‚Psycho Maddie', weil sie immer alleine war und nie mit jemandem sprach. ‚So jemand kann nicht normal sein.', sagte James.

Sie riefen ihr Beleidigungen hinterher. ‚Irgendjemand muss es ihr doch nun mal sagen.', sagte Liam.

Und in einem bereits drei Jahre alten Video, luden sie Madison zu einem Geburtstag ein. Man sah wie sie die Einladung bekam, wie Madison sie öffnete, wie sie sich freute. Als Nächstes wurden James, Courtney, Liam, Olivia und Zac auf einer Anhöhe bei einem Baum sitzend gezeigt. Sie hatten Burger King-Tüten in der Hand und filmten einen Parkplatz, auf dem gerade ein Auto vorfuhr.

Man sah wie Madison ausstieg, wie sie ihrer Mutter versicherte, sie bräuchte nicht zu bleiben, wie sie lächelte. Und dann sah man sie warten. Und man sah wie aus dem Lächeln ein Weinen wurde, im Hintergrund hörte man die anderen reden. ‚Hat sie echt geglaubt, wir würden uns mit ihr treffen?', fragte Courtney. Olivia lachte. Und Zac hatte all das gepostet und die Kommentare unter den Videos waren beinahe schlimmer als der Content an sich. ‚Psycho Maddie' ‚Missgeburt' ‚Freak'

All girls, except one, grow upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt