Die Stimmen im Kopf

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Letzten Sommer:

Nika wusste wie das Leben lief, sie war im toten Winkel aufgewachsen, kannte Hunger im Bauch und leere Taschen, die Sorgenfalten in dem Gesicht ihres Vaters, wenn er die Rechnungen durchging. Doch in den letzten Wochen war ihr immer wieder nur dieser eine Satz durch die Gedanken gegeistert, immer wieder hatte er sich bei ihr eingeschlichen, hatte ihr die Wahrheit leise ins Ohr geflüstert.

Wie hatte ich nur so naiv sein können?', dachte Nika. Denn als sie mit Kai darüber gesprochen hatte, hatte sich alles so leicht angehört. Sie brauchte nur ihren Schulabschluss, dann müsste sie nie wieder an James oder Liam, an Courtney, Olivia oder Zac denken.

Doch als sie am nächsten Tag in die Schule gegangen war, hatten alle sie angestarrt. Und sie beleidigt. Und über sie gelacht. Und wenn Nika im Unterricht aufgerufen wurde, fielen ihre Mitschüler ihr ins Wort, bis der Lehrer gezwungen war, doch jemand anderen dran zu nehmen.

Sie saß in jedem Kurs, den sie ohne Madison besuchte, alleine, alle hatten sich von ihr weggesetzt. Man wollte nicht mit ihr sprechen, nicht mit ihr gesehen werden.

Ihr einziger Hoffnungsschimmer war Madison. Zusammen versuchten sie über das dämliche Verhalten ihrer Mitschüler zu lachen, auch wenn es schon lange nicht mehr witzig war.

In der ersten Woche versuchte Nika sich noch einzureden, dass es vorbei gehen würde. Auch noch in der zweiten Woche. Dann war die hoffnungsvolle Stimme leiser geworden und dieser eine Gedanke in ihrem Kopf nur umso lauter.

Wie hatte ich nur so naiv sein können?

Sie hatte wirklich geglaubt, dass die Schüler der Hemingway-High es vergessen würden, sobald der nächste Skandal die Runde machen würde. Nur leider war sie selber der nächste Skandal.

An einem Montagnachmittag trat Nika schweißgebadet aus der Sporthalle der Hemingway-High. Sie duschte nicht mehr mit den anderen Schülerinnen, seit diese vor einer Woche versucht hatten Bilder von ihr unter der Dusche zu machen.

Daher wollte sie auch nichts anderes als möglichst schnell nachhause zu fahren, um sich dort unter die Dusche zu stellen. Fluchend suchte sie die Schlüssel ihres Fiats, den ihr Bruder tatsächlich wieder zum Laufen gebracht hatte. Zu ihrem Glück, denn so war sie nicht länger auf den Bus oder Liam angewiesen.

Als Erstes fiel ihr die Clique auf, die in der Nähe ihres Wagens herumhing. Courtney stand nah bei Liam, der jedoch wieder dazu übergegangen war, sie zu ignorieren.

Nika hatte versucht mit ihm zu reden, war immer wieder auf ihn zugegangen, doch er hatte sich weggedreht, ihr nicht zugehört oder aber ihr schlicht und einfach nicht geglaubt. Doch sie war noch nicht bereit aufzugeben denn vor ein paar Tagen war er wieder mit einem Veilchen im Gesicht zur Schule gekommen.

Erst als Nika näher kam, sah sie warum Liam, Zac, Courtney, Olivia und James in der Nähe ihres Wagens standen. Warum auch andere Mitschüler immer wieder zu ihnen herüberblickten, warum selbst die Lehrer einen kurzen Blick riskierten, bevor sie wieder wegsahen.

Ein Schriftzug zog sich über die linke Seite des Fiats. Verräterin. Daneben stand Lesbenschlampe und darunter Gettohure.

Nika blieb stehen und starrte den Wagen an. Sie war sich nicht mal mehr sicher ob sie überhaupt atmete. Dieser Wagen mit abblätterndem Lack und stotterndem Motor war eines der wertvollsten Besitztümer der Ramires. Und nun war er vollgeschmiert mit Beleidigungen, die ihr die Tränen in die Augen trieben. Keine Tränen der Trauer, sondern Tränen der Wut.

Mit schnellen Schritten ging sie auf die Clique zu, die Nika noch immer nicht bemerkt hatte.

„Was. Soll. Das?", Nika musste sich zusammenreißen, um nicht zu schreien. Sie wollte sich nicht länger herumschubsen lassen. Langsam drehten sich die anderen zu ihr um. Zac zog sein Handy aus der Tasche, während Courtneys Lippen dieses eine Lächeln umspielte, das Nika zu hassen gelernt hatte.

All girls, except one, grow upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt