Mörderische Genialität

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Letzten Sommer:

Madison erinnerte sich nicht mehr an vieles.

Erinnerungen und Albträumte vermischten sich zu einem Brei, der ihr den Lebenswillen raubte. Sie saß in ihrem Zimmer, starrte an die Wand mit diesem schrecklichen Spruch und ließ sich ihre Haare vors Gesicht fallen. Sie waren strähnig und fettig geworden, denn Madison ging nicht mehr duschen und sie aß nicht mehr und sie schlief auch nicht. Sie wartete nur darauf, dass Nika die Tür aufstieß und sie angrinste. Sie wegen ihrer Haare tadelte und ihr anschließend von Peter Pan erzählte. Und Madison wartete und wartete.

Sie erinnerte sich nicht mehr an vieles, doch die Fetzen, an die sie sich erinnerte tauchten immer wieder vor ihrem Auge auf.

Nika, die fiel.

James, der erschrocken einen Schritt zurücktrat, ein feines Rinnsal Blut, das noch immer aus seiner Nase lief.

Liam, der auf James zustürzte.

„Du hast sie umgebracht! Du hast sie umgebracht!", die Wahrheit seiner Worte hallten in Madison wieder. Sie sank zu Boden.

Und dann verschwamm wieder alles, alles, bis auf Courtneys ruhige Stimme, die plötzlich durch den Raum schnitt.

„Nika hat Selbstmord begangen.", sagte Courtney, „Sie hat den Druck der Schule nicht mehr ausgehalten."

„James hat sie umgebracht.", entgegnete Liam.

Doch James wischte sich nur das Blut aus seinem Gesicht und streifte es an seiner Hose ab.

Madison erinnerte sich nicht mehr an vieles, doch sie erinnerte sich an Liam, der nicht mit der Lüge einverstanden war. Bis Zac sagte:
„Wenn du vor Gericht stehst, wenn du des Mordes oder unterstellter Hilfestellung angeklagt wirst, ziehst du den Namen deiner Familie in den Dreck." Liam lachte nur.

„Der Name meiner Familie ist mir nichts wert."

„Und wenn du nicht mehr zuhause bist, wenn du im Jugendknast schmorst, an wen wird deine Mutter dann ihren Frust auslassen? Für das Versagen des einen Sohnes müssen dann die anderen Kinder hinhalten."

Liam schwieg. Dann nickte er und sagte tonlos:
„Nika hat Selbstmord begangen."

Sie alle logen für den guten Ruf ihrer Familie, für eine Zukunft ohne Gerichtssaal und Madison erinnerte sich nicht mehr an vieles, aber sie erinnerte sich an James kalte Augen, die sie anstarrten.

„Du sagst kein Wort.", hatte er gezischt, „Unser Wort steht gegen deines. Mein Vater ist Anwalt, wir haben Einfluss im Gericht, erstattest du Anzeige, bist du verloren. Du sagst kein Wort."

Und Madison sagte kein Wort. Keiner der Schüler bemerkte die kleine Gruppe, die aus der Hemingway-High trat. Keiner wusste, dass Nika nicht gesprungen, sondern geschubst worden war.

Madison erinnerte sich nicht mehr an vieles, aber sie erinnerte sich an den Anblick von Nika. Das Blut, das den Parkplatz rot färbte, der leere Blick ihrer dunklen Augen.

Eine Menschentraube hatte sich um Nika gebildet. Und dann sah Madison Kai, der neben Nikas Leichnam saß und sie in seinen Armen hielt. Wie das Blut sich mit seinen Tränen mischte, wie er schluchzte, wie er ihr die Haare von der Stirn strich und ihr etwas zuflüsterte. Wie er nicht einsehen wollte, dass Nika ihn weder hören, noch antworten konnte.

Sie wusste nicht, warum Kai überhaupt am Parkplatz der Hemingway-High gewartet hatte, doch es war ihr auch egal. Alles war ihr egal, denn das Mädchen, das sie am Leben gehalten hatte, war tot.

All girls, except one, grow upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt