Stille

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Letzten Sommer:

Es gab verschieden Arten von Stille. Es gab das angenehme Schweigen zwischen zwei Personen, die sich auch ohne Worte verstanden, es gab die unangenehme Ruhe, wenn es nichts mehr zu sagen gab, die Worte aber dennoch im Raum hingen.

Und dann gab es die Stille im Hause Clark. Sie war eine Nika vollkommen unbekannte Variante, denn man konnte reden, singen oder schreien und dennoch wurde man diese Stille nicht los.

Auch Madison fühlte sich unwohl, wie sie dort im Schneidersitz auf ihrem Bett saß, gegenüber von der Wand mit dem aufgemalten Spruch – Lebe so, dass du nichts zu bereuen hast.

Sie hasste dieses Zitat, denn so lief das Leben nicht. Sie hatte viel zu bereuen und gerade jetzt schämte sich wie nie zuvor.

Denn als Nika das Haus betreten hatte, war Madisons Mutter, Sylvia Clark, herbeigeeilt, um zu sehen, wer ihre Tochter besuchte. Sie hatte Nika von oben bis unten gemustert. Von den Nike Schuhen, die offensichtlich fake waren, über die zerrissene Jeans und dem schlichten T-shirt bis hin zu den Gesichtszügen mexikanischer Herkunft. Sie hatte Nika nicht die Hand gereicht oder auch nur ein Wort gesagt.

Aber das brauchte sie auch gar nicht, denn ihr abwertender Blick sagte mehr als tausend Worte. Als Mrs. Clark wieder ging, klackerten ihren Pumps bei jedem Schritt, während Madison am liebsten im Boden versunken wäre.

Nun saßen sie hier in ihrem Zimmer, mit dem Zitat an der Wand und den grässlich pinken Tapeten, die noch aus Madisons Kindheit stammten. Mit dieser Stille, die sich durch das gesamte Hause Clark zog.

„Ich mag das Zitat.", sagte Nika zögerlich. Madison musterte erst die Wand und dann Nika. Nika konnte verdammt schlecht lügen und würde sich Madison im Augenblick nicht so sehr schämen, hätte sie vielleicht gelacht.

„Nein, magst du nicht.", sagte sie direkt, da sie von Small Talk nichts verstand. Erst war Nika überrascht, dann lachte sie.

„Nein, mag ich nicht. Es ist so... so..."

„Kitschig?"

„Ja, als hätte man auf Google ‚08/15 Lebensweisheit' eingegeben." Nun lachte auch Madison, trotz der Scham in ihrem Bauch.

„Ich mein, versteh mich nicht falsch,", sagte Nika, „Ich mag Zitate. Sehr sogar. Aber dieses hier..."

„Ist eine Lüge.", fiel Madison ihr ins Wort, „Es ist eine möchtegern Vorstellung. Man bereut immer irgendetwas, die meisten mehr als ihnen überhaupt bewusst ist." Sie blickte zu Nika, dann wieder auf die in ihrem Schoß gefalteten Hände.

„Es tut mir leid.", sagte sie, „Wegen meiner Mutter."

„Sie hat nichts Schlimmes getan."

„Doch.", sagte Madison energisch, „Sie war unhöflich und hätte dich nicht ansehen sollen, als wärst du ein Insekt." Doch wider ihrer Erwartung, lachte Nika nur.

„Ich bin eine mexikanische Einwanderin und lebe nicht gerade im schönsten Teil von LA, Madison", sagte sie, „Erst vor einer Woche noch hat mich eine Oma auf der Straße als Flittchen beleidigt. Mit deiner Mutter werde ich schon fertig." Aber auch wenn Nika alles auf die leichte Schulter nahm, konnte Madison das nicht so einfach abschütteln. Es war nicht nur die Art, wie sie Nika behandelt hatte, was sie an ihrer Mutter abscheulich fand.

Wieder blickte sie zu dem Zitat an der Wand.

Lebe so, dass du nichts zu bereuen hast...

Sie hasste dieses Zitat, das ihr immer wieder vor Augen führte, dass sie für ihr junges Leben bereits viel zu viel zu bereuen hatte.

Einen Stockwerk tiefer hörte man eine Tür auf- und zugehen und schwere Schritte im Flur. Madison glitt vom Bett und öffnete ihre Tür, dann legte sie ihren Zeigefinger an die Lippen und bedeutete Nika leise zu sein.

All girls, except one, grow upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt