Sieh zu

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Winter:

Meine Gedanken sprangen hin und her wie das Pendel einer Standuhr. In der einen Sekunde war mein Kopf voller Fragen über den Selbstmord meiner Vorgängerin (Was war dort nur passiert?) und in der nächsten konnte ich an nichts anderes mehr denken, als das Mädchen auf der Mauer, ob sie nun Wendy oder Madison hieß.

Marco hatte begonnen von einer Website zu sprechen, die er aufgebaut hatte, der sogenannten ‚Hemingway-High digital together'. Und ich ließ ihn weiterreden, auch wenn ich schon alles über die Plattform wusste, denn sie war einer der ersten Links, die bei Google auf die Suchanfrage ‚Hemingway-High' angezeigt wurden.

Um genau zu sein war die Website ziemlich einfach aufgebaut, es gab einen Chatroom und es wurden regelmäßig Posts über die Schule veröffentlicht, die man anklicken und kommentieren konnte. Im Prinzip eine digitale Schülerzeitung, aber Marco hatte Erfolg damit und sie ‚öffnete ihm die Türen zu allen guten Colleges', wie er es ausdrückte.

Und als das Pendel in meinem Kopf meine Gedanken wieder zu dem Mädchen auf der Mauer führten, fasste ich einen Entschluss. Mir war es egal, wie sie hieß, ich wollte wissen, wer sie war.

Also verabschiedete ich mich von Marco und ging langsam auf das Mädchen zu. Wenige Meter vor ihr kam ich zum Stehen. Nun konnte ich auch den Titel ihres Buches lesen. ‚Peter and Wendy.'

Madison bemerkte mich. Sie legte das Buch beiseite und schaute mich an, genauso wie ich sie anschaute. Niemand sprach.

Sie sagte nichts dazu, dass ich kein Wort herausbekam oder dass ich sie schon die ganze Pause lang aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, sie rückte nur zur Seite, sodass ich mich neben sie setzen konnte. Und dann wartete sie. Wartete nur, bis ich endlich bereit war, sie anzusprechen.

„Wer...", ich räusperte mich, bemüht meiner Stimme einen festen Klang zu geben, „Wer bist du?"

„Ich glaube, jetzt kann ich nicht mehr behaupten, dass ich Wendy bin, oder?", fragte sie und sah zu dem Buch. Es war weder besonders alt noch wirkte es wertvoll, aber es war zerfleddert, der Einband löste sich bereits von den Seiten und der Buchrücken wurde mit Panzertape zusammengehalten. Ich schüttelte den Kopf. „Nein."

„Okay", sagte sie, „dann bin ich Madison Clark."

„Und warum benennst du dich nach Kinderbüchern?", fragte ich und deutete auf das Buch, auf dessen Cover die Silhouette eines kleinen Jungen vor einem Mond zu sehen war.

„Peter und Wendy ist kein Kinderbuch. Es ist ein Roman für Erwachsene.", sie strich mit den Fingerkuppen über den Einband, „Das Bild von Peter Pan, das du im Kopf hast, ist nur das, was Disney und die Kinderserien aus einem Klassiker gemacht haben."

Tatsächlich kannte ich von Peter Pan nur den Disneyfilm. Ich hatte ihn früher immer mit meinem Bruder geguckt, wenn er auf dem Disney-Channel lief. Und hatte geträumt zu den ‚Lost Boys', den Kindern auf der Insel Neverland zu gehören, die mit Peter Pan und den Darling-Geschwistern Abenteuer erlebten.

Den Klassiker von J.M. Barrie hatte ich allerdings nie gelesen.

„Und es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe.", sagte sie, doch wieder Erwartung, war ich weder verletzt noch wütend. Denn ich verstand sie.

„Manchmal möchte man einfach jemand anderes sein", sagte ich vorsichtig und dachten an den toten Winkel, an das von Sorgenfalten geprägte Gesicht meiner Mutter, an die Worte meines Bruders.

„Hey, Psycho!" Ein lauter Ruf durchbrach meine Gedanken. Die kleine Gruppe, die am schwarzen Mercedes gestanden hatte, ging an uns vorbei und lachte. Der Muskelmann und den Kleinen kannte ich schon, aber nun waren sie in Begleitung von zwei Mädchen und einem weiteren Jungen.

All girls, except one, grow upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt