Die Tochter des Häuptlings

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Sommer:

Nika wusste nur eins: Sie wollte weg von hier.

Also stieg sie in ihren Wagen und verließ die Hemingway-High. Und während sie über die Landstraßen von Stuckburn fuhr, versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen.

Wie hatte es nur so schnell falsch laufen können?

Sie versuchte sich keine Sorgen über die Situation zu machen, sie versuchte sogar, wütend auf Olivia zu sein... aber sie konnte es nicht. Obwohl Olivia vor der gesamten Schule gelogen hatte und Nika nun im Kreuzfeuer der Gerüchteküche stand, verspürte sie nur diese bleierne Traurigkeit.

Tränen stiegen in ihr auf, aber sie unterdrückte sie, ließ diese Schwäche nicht zu.

Wie von selbst hatte sie den Weg zum Puzzles eingeschlagen und stand nun am Straßenrand gegenüber ihrer Lieblingsbar. Sie konnte noch nicht nachhause fahren, es war noch zu früh, um zu behaupten, dass die Schule schon vorbei war und sie wollte nicht, dass ihr Bruder oder ihr Vater sich Sorgen machte.

Sie selbst konnte es kaum fassen, dass sie gerade die Schule schwänzte, doch sie hatte es dort nicht länger ausgehalten. Aber morgen, so nahm sie es sich fest vor, würde sie wieder durch die Flure der Hemingway-High gehen und keine der Beleidigungen an sich heranlassen.

Mit diesem Gedanken betrat sie die Bar. Morgen würde sie wieder stark sein, aber heute... heute wollte sie sich einfach nur fallen lassen.

An der Bar stand Kai und schaute überrascht auf, als sie sich an die Bar setzte. Seit er vor einem Jahr die Schule beendet hatte, arbeitet er im Puzzles auf Vollzeit.

„Einen schlechten Tag heute?", fragte Kai lachend, doch Nika konnte sich nicht dazu überwinden diese Geste zu erwidern.

„Ja, irgendwie schon.", sagte sie, „Ein Wasser bitte."

Und während Kai ihr Wasser holte, zog sie ‚Peter and Wendy' aus der Tasche. Sie kannte jedes einzelne Wort aus dem Roman auswendig, doch sie las ihn immer und immer wieder.

Früher hatte ihr Bruder Miguel ihr von Peter Pan erzählt; von einem Jungen, der weit entfernt von Sorgen und Problemen lebte, für den das ganze Leben nur aus Lachen und Staunen bestand, selbst wenn er sich in größter Gefahr befand.

Und Nika hatte sich gewünscht zu ihm zu gehören, für immer auf Neverland zu wohnen und nie wieder an den toten Winkel oder an den Hunger im Bauch denken zu müssen. Und sobald Nika lesen konnte, hatte Miguel ihr den Klassiker, die Originalgeschichte von Peter Pan geschenkt. Schon damals waren die Seiten abgenutzt und das Cover verblichen, aber Miguel hatte ihr erzählt, dass es ein Geschenk ihrer Mutter sei, weil diese Nika vermisste.

Natürlich war das eine Lüge gewesen, das Buch kam von dem Flohmarkt der Melrose Avenue, ihre Mutter vermisste ihre Kinder nicht und Nika hatte das gewusst. Denn sie kannte die Lügen über ihre Mutter. Sie vermisst dich, sie hat dich lieb, sie wollte nicht gehen.

Als Kind war ihr ihre Mutter immer wie der Weihnachtsmann oder der Osterhase vorgekommen. Irgendwie existierte sie aber irgendwie auch nicht.

Auch hatte Nika schon als Kind gewusst, dass eine so sorglose Welt, wie in ihrem Lieblingsroman beschrieben, im toten Winkel keinen Platz fand.

Trotzdem hatte die Faszination für Peter Pan nie aufgehört, sie hatte ihr eigenes Neverland gefunden und ihre eigenen Lost Boys. Und auch wenn ihre Insel eine Absteige um die Ecke war und ihre Freunde aus einem Barkeeper ohne Perspektiven und einem schrägen Mädchen bestanden, liebte sie es.

„Nika?" Aus ihren Gedanken gerissen blickte sie auf. Kai hatte sie anscheinend nicht das erste Mal gerufen.

„Ja?", fragte sie und rieb sich über die Augen. Wie spät war es?

All girls, except one, grow upWo Geschichten leben. Entdecke jetzt