"Und Nachtruhe ist um 23 Uhr. Wenn du danach noch auf einem anderen Zimmer erwischt wirst, gibt's Ärger. Freitags und Samstag abends darfst du raus, allerdings nur wenn du dich vorher abgemeldet hast. Übernachtungen auf anderen Zimmern nur am Wochenende und nur beim gleichen Geschlecht. Noch Fragen, Süße?"
Ich schüttele nur den Kopf. Schon nach den ersten Worten, die sehr stark nach Regeln klangen, hatte ich wie von selbst auf Durchzug geschaltet.
"Und wenn du doch noch irgendwelche Fragen hast. Na, du weißt ja, wo du mich findest. Dein Zimmer ist im zweiten Stock im Westflügel. 217. Deine Zimmermitbewohnerin kann dir alles weitere erklären.", plapperte die blonde, in die Jahre gekommene Frau munter weiter.
Ich nickte und rang mich sogar zu einem halbwegs natürlichen Lächeln durch. Sie konnte ja nichts dafür, dass ich nicht hier sein wollte.
Da sie mit ihrem Vortrag offensichtlich fertig war, bedankte ich mich noch einmal und machte mich dann auf den Weg zu meinem neuen "Zuhause".
Während ich durch die Gänge streifte, die alle leider ziemlich gleich aussahen, wanderten meine Gedanken zurück zu dem Tag, an dem mein Leben noch völlig in Ordnung ausgesehen hatte. Sofern man mein Leben überhaupt als in Ordnung betrachten konnte.
"Rose, würdest du mal bitte runterkommen? Wir wollen etwas mit dir besprechen." Ich stöhne und rolle mich von meinem Bett herunter. Auf dem Boden liegend, überkommt mich das seltsame Verlangen, einfach wie ein trotziges Kind in meinem Zimmer hocken zu bleiben und so zu tun, als würde mein Leben nicht grade völlig auseinanderbrechen.
In der Küche stehen sie, mein Vater an die Spüle gelehnt, meine Mutter am Herd. Sie sehen ernst aus, traurig. Genauso, wie die letzten Tage. Wie die letzten Wochen.
"Hör zu, Schatz.", fängt meine Mutter zögernd an. "Der Vorfall letztens lässt uns keine Ruhe."
Der Vorfall. Wie nett ausgedrückt. Vielen Dank auch.
"Was ist, wenn sowas nochmal passiert?" Ich seufze und schließe kurz die Augen.
"Mum. Wie oft noch? Das wird nicht noch einmal passieren. Dieses Mal bin ich gewarnt. Sie haben mich einfach überrascht."
"Wie lassen es gar nicht auf ein nächstes Mal ankommen.", mischt sie nun auch mein Vater ein. "Deine Mutter und ich hatte eine Idee." Er hält mir ein Stück Papier hin. Als ich es nehme, merke ich, dass es eine Art Flyer ist. Ich werfe einen kurzen Blick darauf.
"Das ist doch jetzt nicht euer Ernst? Niemals!"
"Es soll sehr schön dort sein, Schatz...", fängt meine Mutter leise an, doch ich unterbreche sie.
"EIN INTERNAT?!", schreie ich, "IHR WOLLT MICH AUF EIN VERDAMMTES INTERNAT SCHICKEN?"
Mein Vater kommt auf mich zu, doch ich weiche fast panisch zurück. Etwas hilflos hebt er die Hände, lässt sie jedoch schnell wieder sinken.
"Nie im Leben.", stelle ich jetzt etwas ruhiger fest. "Ich lebe HIER. HIER sind meine Freunde, nicht dort. Ihr könnt mir nicht mein Leben wegnehmen!"
"Es ist nur zu deinem besten Rosemarie." Ich schnaube.
"Ach, meinen Namen darf ich also behalten, ja? Oder nehmt ihr mir den auch?", frage ich verbittert. "Ihr lasst euch doch nicht ernsthaft von solchen Arschlöchern einschüchtern, oder? Jetzt wollt ihr mich abschieben und so tun, als gäbe es mich gar nicht? Ihr habt ja wohl..."
"ROSEMARIE MOORE!", donnert mein Vater, "Du wirst auf dieses Internat gehen! Es ist zu deiner Sicherheit. DISKUSSION ENDE!" Er fährt sich mit den Händen über sein Gesicht. Er sieht abgespannt aus. Müde. Plötzlich tut er mir leid. Ich schaue erst ihn und dann meine Mutter an.
"Wir wollen nicht noch ein Kind verlieren.", sagt meine Mutter sanft, aber ich kann sehen wir sie gegen die Tränen ankämpft.
Das andere habt ihr doch gar nicht verloren, also tu doch nicht so, schießt es mir durch den Kopf. Trotzdem haben die Worte meiner Mutter eine Wirkung auf mich. Ich schlucke und weiß das sie gewonnen haben.
Milton Academy. Das klang doch total abgehoben für ein normales Internat. Aus meinen Gedanken aufschreckend sah ich mich um. Dann warf ich einen Blick hinter mich und stöhnte. War ich jetzt im Westflügel, oder nicht? Warte mal... Es war doch der Westflügel, in dem mein Zimmer lag. Oder? Zögernd ging ich den Gang weiter entlang und hielt nach beschrifteten Räumen Ausschau.
Nach ein paar Minuten, in denen ich nur an Klassenräumen entlanggelaufen war, kam ich zu einer Art Überführung. Ein langer, gebogener Gang, der rechts und links großzügig mit Fenstern gesäumt war. Staunend blieb ich stehen. Die Aussicht war der Wahnsinn!
Schnell zückte ich mein Handy und schickte meinen Freunden ein Foto. Dann machte ich mich auf, meinen Koffer hinter mir herziehend, den Gang zu durchqueren. Am Ende des Ganges war eine Glastür, die viel schwerer war, als sie aussah. Nur mit Mühe schaffte ich es, mich selbst und mein ganzes Gepäck so zu koordinieren, dass ich eine Hand für die Türklinke übrighatte. Ich quetschte mich durch die Tür und landete -oh Wunder- in einem weiteren Gang, der auf beiden Seiten Türen hatte. Alle paar Türen folgten weitere verzweigte Gänge und ganz hinten am Ende des Ganges konnte ich eine nach unten führende Wendeltreppe erkennen.
Dass die Aufteilung der Räume irgendeinem Muster folgte, war mir klar, nur war ich schlichtweg zu überfordert, um es zu erkennen. Okay, also... Ich hatte absolut keine Ahnung.
Genervt seufzte ich auf und begann, jeden einzelnen Gang abzulaufen und die Zimmernummern durchzusehen. Offensichtlich waren die Zimmer immer in Zehnergruppen in einen Gang zusammengefasst.
Nach dieser Erkenntnis übersprang ich einige Gänge und fand mich schließlich auf dem vorletzten Gang vor der Wendeltreppe wieder.
215... 216... Dort. Zimmer 217.
Ich atmete tief durch und lockerte kurz meine Schultern. Im Kopf ging ich die Fakten durch: "Mein Name ist Rosemarie Moore, ich komme aus Hawkshead und bin hier, weil..." Ja warum? Was sollte ich sagen, oder besser, was sollte ich allen vorlügen? Mein Name war nicht unbekannt, da mein Vater eine große, recht erfolgreiche Firma besaß. Hoffen wir einfach mal, dass mich keiner danach fragt, dachte ich, atmete noch einmal tief ein und aus und betrat entschlossen das Zimmer.
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Be Quiet
Teen FictionNachdem sie beinahe im Krankenhaus gelandet wäre, wird Rose auf ein Internat in England geschickt. Sie hofft, dass alles ausgestanden ist, wird aber eines besseren belehrt...