12. Kapitel

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Es war nun bereits merklich dunkler im Raum. Die Sonne war längst untergegangen und die restliche Helligkeit von draußen erhellte den Raum grade so, dass es nicht unangenehm dunkel war. Das Licht von draußen schimmerte orange-rot und machte den Raum, den ich immer noch als fremd betrachtete, ein wenig gemütlicher.

Durch das Telefonat mit meinen Freunden war es mir auf einmal deutlich bewusst geworden: Ich wohnte jetzt hier. Unwiderruflich. Ich würde bis zum Ende des Schuljahres im nächsten Jahr hier wohnen. Ich würde meinen verdammten Abschluss unter Fremden machen. Fremden Menschen, die keinen Ahnung vom Leben und seinen Schattenseiten hatten.

Auch wenn ich es seit meiner Ankunft gut verdrängt hatte, war mir klar, dass diese Leute hier niemals all die Zeit aufholen konnten, die ich mit meinen richtigen Freunden bereits verbracht hatte. Und im Gegenzug konnte ich niemals das Jahr aufholen, dass meine Freunde nun ohne mich verbringen würden.

Wir hatten so viel geplant. All die Zeit, die wir nach unseren Klausuren miteinander hatten verbringen wollen, war nun nichts mehr wert. Sie würden ihr weiteres Leben ohne mich besprechen. Die stundenlangen Gespräche, die ohne mich geführt werden würden. Was tat ich, wenn sie etwas planten und vergaßen mich einzuweihen? Wir hatten immer auf ein gemeinsames College gehen wollen. Was, wenn sie vergaßen mich zu informieren? Ich gezwungen war auf ein anderes College zu gehen? Wahrscheinlich noch tausende von Kilometern entfernt. Was, wenn wir uns voneinander entfernen würden?

Ich war mir sicher, dass sie mich niemals absichtlich ausschließen würden. Wir kannten uns, wie uns selbst. Jahrelange Freundschaft ließ sich nicht so einfach vernichten. Aber ich wusste wie schnell das Vergessen sein konnte. Das Vergessen war hinterlistig und gnadenlos. Es passierte erst einmal unabsichtlich und dann immer häufiger. Und ohne es zu bemerken, hatte man sich entfremdet. Sie hatten einander. Ich hatte niemanden.

Genauso war es bei meinem Bruder auch gewesen. Die Erinnerungen an all die Dinge, die wir geplant hatten, lagen so weit zurück. Sie kamen mir vor, als wären sie aus einer anderen Welt. Einer anderen Zeit. Einem anderen Leben.

Spanien. Wir hatten immer gemeinsam dahin gewollt. Und kaum war er weg, hatte das Vergessen eingesetzt. Er hatte es mir versprochen. Und er hatte das Versprechen gebrochen. Die Nachrichten wurden weniger. Die Anrufe knapper. Ich wusste er war nicht schuld daran, dass er unsere Familie verlassen hatte. Aber er war schuld daran, dass er MICH verlassen hatte.

Vier Jahre. Vier Jahre sind eine lange Zeit. Vor allem für ein dreizehnjähriges Mädchen. Ein dreizehnjähriges Mädchen, dass nicht versteht. Ein dreizehnjähriges Mädchen, dass sich nichts sehnlicher wünscht, als einen Bruder zu haben. Einen Bruder, keinen Rechtsanwalt.

Das aktuellste Foto, dass ich von ihm hatte, stammte aus dem Internet. Es war vor zwei Jahren aufgenommen worden und wurde auf der Internetseite der Kanzlei veröffentlicht. Die letzte Nachricht, die er mir geschrieben hatte, war zu meinem 17. Geburtstag im Juli gewesen. In einem unserer seltenen Telefonate hatte er mir gesagt, dass ich immer auf ihn zählen könne.

Hat man ja letztens gesehen.

Ich betrachtete die anderen, wie sie auf den Betten saßen und sich angeregt unterhielten. Dabei war ich so sehr in meiner Gedankenwelt, dass es mir vorkam, als wäre ich unter Wasser. Ich konnte förmlich sehen, wie sich die Lippen der anderen bewegten, hörte jedoch nichts. Dabei verschwamm das Reden zu einem monotonen Hintergrundgeräusch, das in mir drin verschluckt wurde, ehe ich es herausfiltern konnte.

Objektiv gesehen hatte ich ziemliches Glück. Man traf nicht oft auf Jugendliche, die einen dermaßen offen aufnahmen. Zugegeben war es schon ein wenig merkwürdig, wie schnell ich auf einmal dazugehörte, aber ich war mir sicher, dass es noch einige Zeit brauchte, bis wir WIRKLICHE Freunde waren.

Be QuietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt