Tag 1 Teil 2

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Ich stehe am Bahnhof und schaue mich um. Eine komplett neue Stadt, neue Gerüche, neue Orte und vor allem, neue Leute. Der frische Geruch von gefallenem Regen steigt in meine Nase und die Sonne wärmt mich auf. Es ist ein angenehmes Gefühl. Wie konnte es so schnell aufhören zu regnen?

Fast hätte ich vergessen weswegen ich hier bin, weswegen ich diese ganzen Stunden mit dem Zug gefahren bin. Er. Ich schaue mich um aber sehe ihn nicht. Er hat doch gesagt, er würde mich am Bahnhof abholen.

„hey", höre ich auf einmal eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und sehe ihn. Er ist noch größer als auf den Bildern und das Sonnenlicht lässt seine Augen glitzern. Wie kann es sein, dass ich ihn nicht gesehen habe? Ich habe mich doch vorhin noch umgesehen. Ich versuche nicht weiter drüber nachzudenken.

„Hey", entgegne ich ebenfalls. Auf einmal spüre ich etwas. Eine Aura. Es ist das Gefühl was ich vorhin im Zug hatte. Mein ganzer Körper fängt an zu kribbeln und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich kann fast nicht mehr atmen.

„Was ist das?", sage ich leise zu mir selbst. Ich bekomme Angst, eine Angst die ich noch nie zuvor gespürt hab. Noch bevor ich mich aus meiner Starre lösen kann greift er mich am Hals und drückt mich gegen eine Wand. Er küsst mich und schiebt mir ohne zu fragen seine Zunge in meinen Hals. Ich merke wie sich meine Füße schon leicht vom Boden heben während ich fast keine Luft mehr bekomme. Mir wird schwindelig. Auf einmal spüre ich wieder den Boden unter meinen Füßen. Ich schnappe nach Luft und muss anfangen zu husten. Was sollte das gerade? Er kennt mich nicht einmal und küsst mich direkt. Und dann auch noch auf so eine Art und Weise.

Auf einmal spüre ich wieder ein Kribbeln, aber diesmal ein unangenehmes. Alle Menschen um uns herum gucken uns verwundert und teilweise sogar schockiert an. Ich würde am liebsten im Boden versinken vor Scham. Wie kann er mich nur vor so vielen Menschen bloßstellen? Ich bin so wütend auf ihn. Sie hatten alle recht. Ich hätte ihm nicht vertrauen sollen.

„komm mit", flüstert er mir in mein Ohr und zieht mich an all den Menschen vorbei, vor denen er mich gerade zutiefst blamiert hat. Ich bin immer noch total perplex und stolpere nur so hinter ihm her. Wir gehen noch eine Treppe hinunter und an einer Bushaltestelle vorbei. Als wir endlich aus der Menschenmasse raus sind lässt er meine Hand los. Er schaut mich an und geht dann langsam weiter.

„Warte mal!", rufe ich ihm nur hinterher, „Was zum Teufel sollte das gerade?". In dem Moment dreht er sich um und geht wieder auf mich zu. Er nimmt mich am Hals aber dieses Mal viel zärtlicher. Schon wieder liegen seine Lippen auf meinen, aber nicht so grob wie vorhin. Er lässt mich ganz langsam los und geht weiter. Das hat sich gar nicht mal so schlecht angefühlt. Was? Nein! Was denke ich da? Komplett in Gedanken versunken merke ich gar nicht, wie weit er schon vorgegangen ist. Und dann hat er auch noch meinen Koffer mitgenommen.

„Warte!", rufe ich ihm nur hinterher, während ich versuche ihn einzuholen. „Kannst du mir das bitte erklären?", bringe ich leicht angestrengt heraus. Ich reiße ihm meinen Koffer aus der Hand. „ich erkläre dir alles, wenn wir zu hause sind okay". „Aber-" fange ich meinen Satz nur an, als er mich unterbricht und sagt „komm, gib mir deinen koffer, ich trage ihn gerne für dich". Stumm gebe ich ihm den Koffer und wir gehen weiter. Wenigstens muss ich ihn dann nicht selber tragen denke ich zu mir, aber ich will trotzdem noch eine Erklärung dafür.

Wir gehen ganz langsam durch die Stadt. Ich fühle mich immer noch sehr unwohl wegen vorhin. Warum hat er das gemacht und warum hab ich mich nicht einfach gewehrt? Auch jetzt laufe ich wieder, ohne etwas zu sagen, neben ihm her. Warum bekomme ich kein Wort raus? Da ist etwas anderes was mir die Sprache verschlägt und es mir nicht möglich macht etwas anderes zu tun als ihm zu folgen. Ich spüre dass es da ist, aber ich weiß nicht was es ist. Ich habe so etwas noch nie in meinem Leben gespürt. Gerne würde ich wissen wann wir endlich an seinem Haus sind. Aber da ich ja eh nichts sagen kann, laufe ich einfach in meine Gedanken vertieft neben ihm her...

Die Zeit verging doch wie im Flug und auf einmal stehen wir schon vor seiner Haustür. Er macht sie auf und wir gehen langsam die Treppe hoch. Ein angenehmer Geruch steigt in meine Nase, während ich immer noch in Gedanken versunken hinter ihm herlaufe. Wie kann ein Mensch nur mit seiner Aura so einen Druck ausüben. Wie kann man jemanden ohne Worte dazu bringen ihm zu folgen, ohne dass er die Möglichkeit hat wegzurennen?

Ehe ich weiter darüber nachdenken kann stehen wir schon vor einer Zimmertür. Seiner Zimmertür. Mein Herz fängt wie wild an zu pochen. Auch wenn ich es schon mal von innen gesehen habe, habe ich das Gefühl dass es gleich ganz anders wird. Ich weiß nicht was mit mir passieren wird. Er drückt die Klinke runter und öffnet die Tür. Was wird mich dort erwarten? Was wird passieren wenn ich dieses Zimmer betrete? Vielleicht ist es nicht zu spät um wegzulaufen. Ich schaue mich um. Ich könnte jetzt die Treppe runter und zurück zum Bahnhof. In den nächsten Zug. Hauptsache weg von hier. Weg von dieser gefährlichen Aura. Weg von diesem Menschen. Aber es ist bereits zu spät.

Mit einem Ruck bin ich in seinem Zimmer und bevor ich etwas sagen kann ist die Tür bereits hinter mir zu. Er hat mich in sein Zimmer gezogen und ich konnte mal wieder nichts dagegen tun. Er dreht den Schlüssel um. In diesem Moment wird mir etwas klar. Diese Aura. Dieser Mensch. Er ist nicht normal. Ich hätte nie so weit gehen sollen. Jetzt ist es zu spät. Ich kann nichts mehr machen. Ich komme hier nicht mehr weg. Ich merke wie alles vor meinen Augen verschwimmt. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich habe das Gefühl gleich umzufallen. Ich kann meinen Körper nicht mehr bei Bewusstsein halten. Das letzte was mir durch den Kopf geht bevor ich in Ohnmacht falle, ist dieser eine Gedanke...

...ich werde hier sterben.


Ich sehe, wie meine Familie an meinem Grab steht und weint. Mein kleiner Bruder kniet auf dem Boden während seine leeren Augen ins Nichts schauen. „Wie konnte es nur so weit kommen?", sagt meine Mutter, „Sie war doch noch so jung". „Wir hätten sie nicht gehen lassen sollen", entgegnet mein Vater. „Ich hätte besser auf sie aufpassen sollen", bringt er mit zitternder Stimme heraus. Er versucht seine Tränen zurückzuhalten. Meine Mutter nimmt ihn in den Arm und sagt ihm, es sei nicht seine Schuld. Mein Bruder schaut immer noch emotionslos geradeaus. Auf einmal geht er nach vorne. Er klettert auf den Tisch voller Blumen, auf dem der Sarg steht. Ich gehe auf ihn zu, um ihn aufzuhalten, aber er läuft einfach durch mich hindurch.

Ich will nicht, dass er meine Leiche sieht. Ich will gar nicht wissen, wie meine Leiche überhaupt aussieht. Er schaut in den Sarg, aber er ist leer. Plötzlich sinkt der Boden immer weiter nach unten bis man ihn nicht mehr erkennen kann. Die Umgebung verwandelt sich auf einmal zu einem leeren Raum und mein Bruder steht nun nicht mehr vor einem Sarg, sondern vor einem offenen Fenster. Wir befinden uns bestimmt im zehnten Stock eines Gebäudes und unten ist eine stark befahrene Straße. Mein Bruder klettert auf die Fensterbank und schaut runter. „Tu es nicht!", rufe ich ihm hinterher. Er dreht sich zu mir um und schaut mich mit seinen leeren Augen an.

„Bitte verlass mich nicht, ich brauche dich doch.", sage ich. „Aber du hast mich doch schon verlassen." Er kippt langsam nach hinten. „NEIN!", schreie ich. Ich fange an zu weinen, während ich zum Fenster laufe. Meine Tränen werden vom Wind weggetragen und ich sehe wie mein Bruder in seinen Tod fällt. Noch bevor er auf dem Boden aufprallt, wird alles weiß...

Slave in 7 DaysWo Geschichten leben. Entdecke jetzt